Ein Datenökosystem für die personalisierte Medizin

Ein Datenökosystem für die personalisierte Medizin

Hintergrund
Ausgabe
2023/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1250296756
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(43):18-21

Publiziert am 25.10.2023

Forschung
Die Gesundheitsdaten der Schweizer Universitätsspitäler waren bisher nicht standardisiert, was eine Sekundärnutzung erschwerte. Das Swiss Personalized Health Network (SPHN) hat nun eine Harmonisierung realisiert, die eine vielseitige Nutzung der Daten und wegweisende Konzepte im Bereich der personalisierten Gesundheitsforschung ermöglicht.
Die personalisierte Medizin stützt sich auf grosse Datenmengen. Darunter sind gesundheitsbezogene Daten aus der klinischen Praxis, Daten aus Genomik, Transkriptomik, Proteomik und Metabolomik («Omics») sowie Daten aus Registern, Studien und Kohorten. Durch die Speicherung, Verknüpfung und Analyse dieser Daten sollen präzisere Diagnosen und individuellere Therapien ermöglicht, Risiken für bestimmte Krankheiten erkannt und eine frühzeitige Prävention erreicht werden [1]. Die medizinische Versorgung orientiert sich damit nicht mehr nur an Durchschnittswerten bestimmter Populationen, sondern berücksichtigt auch individuelle Patientenmerkmale.

Herausforderung Gesundheitsdaten

Um wesentliche Voraussetzungen für die datengebundene personalisierte Medizin in der Schweiz zu schaffen, wurde 2016 die Initiative Swiss Personalized Health Network (SPHN) vom Bund lanciert [2]. Zum Netzwerk gehören Universitätsspitäler, Universitäten, Fachhochschulen und die Eidgenössischen Technischen Hochschulen ETH und EPFL.

Zu Beginn der Initiative war die Datenlandschaft der beteiligten Institutionen äusserst heterogen.

«Zu Beginn der Initiative war die Datenlandschaft der beteiligten Institutionen äusserst heterogen, sowohl was den Reifegrad des Datenmanagements als auch die Verwendung allgemein verständlicher Datenstandards betraf», sagt Dr. Thomas Geiger, Geschäftsführer des SPHN. Neben rechtlichen, ethischen und technischen Aspekten sei der Austausch von Gesundheitsdaten auch eine kulturelle Herausforderung. Oft werde der Datenschutz höher bewertet als der mögliche Nutzen. Konkurrierende Spitäler und Ärzte oder Ärztinnen hätten Eigeninteressen und wollten den Wert der gesammelten Daten zunächst für sich abschöpfen. Auch der Schweizer «Kantönligeist» wird für den Datenaustausch von verschiedenen Netzwerkteilnehmern als wenig förderlich empfunden. Ein breit angelegter Datenaustausch ist aber allein schon aufgrund der geringen Grösse der Schweiz für die medizinische Forschung essenziell.

Datenstandards und Dienstleistungen

In den zwei Förderperioden seit 2017 konnte im Netzwerk «ein gegenseitiges Verständnis für den Nutzen und Mehrwert von geteilten Daten und harmonisierten Prozessen geschaffen werden. Es wurden gemeinsame Visionen für den Datenaustausch entwickelt», sagt Katrin Crameri, Direktorin des SPHN-Datenkoordinationszentrums in Basel. Und weiter: «Konkret wurden für über 100 klinische Parameter Standards für Benennung von Konzepten und Daten sowie präzise Grundlagen für deren Interpretation definiert, die auf internationalen Datenstandards basieren. Hier ist man sich mit eHealth Schweiz einig, denn auch für das elektronisch Patientendossier (EPD) benötigt man strukturierte, standardisierte Daten.»

Bei der Überwachung von Patienten mit schweren Infektionen werden sehr viele komplexe Daten erfasst.

Heute könnten die sensiblen Daten über gesicherte Datenpipelines zweifach verschlüsselt in das Hochsicherheitsnetzwerk BioMedIT eingespeist werden, sagt Katrin Crameri. «Auf Hochleistungsrechnern können sie bearbeitet werden, bleiben aber immer im «Trusted Research Environment». Das ist entscheidend, um das Vertrauen der beteiligten Spitäler und letztendlich auch der Patientinnen und Patienten zu erhalten, die ihre Daten zur Verfügung stellen», betont Katrin Crameri. Über das Datenkoordinationszentrum (DCC) stehen wesentliche Dienstleistungen zur Verfügung: «Das ist zum einen ein ganzes Portfolio von Softwaretools, die die Integration und Pflege von Daten unterschiedlichster Herkunft (zum Beispiel Bildgebung, Labor, Gensequenzen, Text etc.), Systeme und Organisationen massiv erleichtern.» Dazu gehört auch ein Abfragesystem, das es ermöglicht, die Machbarkeit eines Forschungsprojektes auf Basis vorhandener Daten über fünf Spitäler hinweg zu analysieren. Wichtig sind auch nichttechnische Dienstleistungen, wenn es beispielsweise um Modelle für ethische oder rechtliche Fragen geht. Die durch das SPHN geschaffenen Infrastrukturen, Standards und Services stützen sich auf die Erfahrungen aus ungefähr 40 geförderten, angewandten Forschungs- und Entwicklungsprojekten [3].

Vier nationale Datenplattformen

Die Nationalen Data Streams (NDS), gemeinsam gefördert durch SPHN und dem Programm der ETH-Domäne Personalized Health and Related Technologies (PHRT), sollen mit den im SPHN vorhandenen Grundlagen modellhaft den Grundstein für zukunftsfähige Konzepte im Bereich der personalisierten Gesundheitsforschung legen. Davon wird auch eine Signalwirkung für Folgeprojekte erwartet. Auf vier Plattformen werden künftig Daten für die Forschung in der Intensivmedizin, der Onkologie, der Pädiatrie und der Versorgungsforschung zur Verfügung stehen [3]. «Vier Konsortien mit Forschenden aus den am SPHN beteiligten Institutionen pflegen die Daten gemäss der Interoperabilitätsstrategie des SPHN. Neben der eigenen Forschung in einem Leuchtturmprojekt können die Daten auch für Projekte von Dritten genutzt werden», sagt Katrin Crameri.

Schwere Infektionen früh erkennen

Eines dieser NDS befasst sich mit schweren Infektionen. Diese weisen phänotypisch eine grosse Heterogenität auf, die sich unterschiedlich auf den klinischen Verlauf und den Behandlungserfolg auswirkt. Patientinnen und Patienten mit schweren Infektionen werden intensivmedizinisch sehr eng überwacht. Dabei werden sehr viele, zum Teil zeitlich hochaufgelöste Daten erfasst, die sehr komplex sind. Eine Analyse dieser Daten aus den fünf Universitätsspitälern, kombiniert mit klinischen Parametern zur Bewertung der Infektionen, erlaubt eine individuellere Beurteilung, eine genauere Charakterisierung und bessere Aussage zur Prognose [4].
«Dabei können wir auf die bereits bestehende Infrastruktur aus einem Vorgängerprojekt, im Clinical Data Warehouse, zurückgreifen», sagt Prof. Dr. med. Adrian Egli, Zürich, Projektleiter des NDS «Personalized, data-driven prediction and assessment of infection related outcomes in Swiss ICUs» (IICU). Einige Arbeitspakete des Projekts seien bereits fortgeschritten. Am weitesten sei man bei der Definition von Infektionen in der Intensivmedizin, auch bei der Erstellung einer elektronischen Patientendokumentation und den bioinformatischen Analysen gebe es gute Fortschritte. Als grosse Herausforderung sieht Egli die rechtlichen Anforderungen mit Verträgen zwischen vielen Projektpartnern und die Klärung ethischer Fragen. Das sei zeitraubend und eine Auswertung der bereits vorhandenen Daten könne erst erfolgen, wenn diese Punkte geklärt seien. Ein grosses Potenzial für die personalisierte Medizin sieht Egli in der Validierung digitaler Biomarker, mit denen eine Sepsis und andere schwere Infektionskrankheiten früher erkannt werden könnten.

Präzisionsmedizin in der Onkologie

Die Präzisionsonkologie eröffnet völlig neue Perspektiven für Krebspatientinnen und -patienten. Dabei werden klinische Daten, komplexe Omics-Analysen oder auch Bilder aus der Pathologie und Radiologie mithilfe künstlicher Intelligenz ausgewertet, um die Patientinnen und Patienten mit personalisierten Therapien behandeln zu können. «Qualitativ hochwertige und interoperable Daten sind sowohl für unsere klinischen als auch unsere Forschungsprogramme im Bereich der Präzisionsonkologie von entscheidender Bedeutung. Mit SPHN können wir auf eine erstklassige Infrastruktur zurückgreifen, um unsere Daten unter Einhaltung höchster Qualitäts- und Sicherheitsstandards auszutauschen», sagt Prof. Dr. med. Olivier Michielin vom Universitätsspital Genf, der zusammen mit Prof. Dr. Bernd Bodenmiller, ETH Zürich, Projektleiter des Swiss Personalized Oncology-NDS-Projekts (SPO-NDS) [5] ist.

Ein nationales Register soll Überbehandlungen und deren Folgen für Patientinnen und Patienten aufzeigen.

Derzeit läuft eine Testphase, in welcher der Nutzen von Omics-Ansätzen für das molekulare Tumorboard evaluiert wird. «Es ist eine grosse Herausforderung, schweizweit Omics-Daten zu generieren, zu standardisieren und diese Informationen innerhalb von nur zwei bis drei Wochen in einem molekularen Tumorboard zur Verfügung zu stellen. Dank dem SPHN und dem hervorragenden Teamgeist im Projekt SPO-NDS wird dies nun Realität», freut sich Michielin. Der erste Patient werde Anfang 2024 erwartet und damit eine neue Phase der Präzisionsonkologie in der Schweiz eingeläutet.

Personalisierte Medizin in der Pädiatrie

Mit dem SwissPedHealth-NDS soll eine Datenplattform geschaffen werden, auf der klinische Routinedaten aus grossen Schweizer Kinderspitälern und Universitätskinderspitälern gespeichert und aufbereitet werden [6]. «In der Pädiatrie ist es besonders wichtig, aus Daten zu lernen. Kinder sind die verletzlichsten Patienten und können enorm profitieren. Jede Verbesserung in der pädiatrischen Versorgung hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft», sagt Prof. Dr. med. Luregn Schlapbach, Universitäts-Kinderspital Zürich, ein Projektleiter von SwissPedHealth. Der NDS bestehe aus vier Teilprojekten in den Bereichen Wachstum und Übergewicht, Onkologie, Pneumologie und Antibiotikaeinsatz bei Infektionskrankheiten.

Die Präzisionsonkologie eröffnet völlig neue Perspektiven für Krebspatienten.

Schlapbach betont: «Wenn wir in der Pädiatrie von personalisierter Medizin sprechen, geht es meist um seltene Krankheiten, von denen oft nur einzelne Kinder betroffen sind. Um schwere Verläufe zu verhindern, müssen diese Erkrankungen früh erkannt werden.» Im Rahmen des angegliederten Leuchtturmprojekts werden bei seltenen pädiatrischen Erkrankungen parallel zu den üblichen Diagnoseverfahren Multiomics-Daten erhoben. Zusammen mit dem Einsatz von maschinellem Lernen sollen daraus Algorithmen entwickelt werden, die die Diagnostik beschleunigen [6]. Im Moment sei man vor allem mit dem Aufbau der Infrastruktur beschäftigt, so Schlapbach, parallel dazu würden aber in allen Teilprojekten bereits Daten erhoben.

Pflege und medizinische Abläufe optimieren

In den Schweizer Spitälern wurden die Pflege und medizinische Abläufe im Gegensatz zu Leistungsindikatoren wie Mortalität, Wiederaufnahmen oder Aufenthaltsdauer bisher auf nationaler Ebene kaum oder gar nicht dokumentiert und kontrolliert. Mit dem NDS «Low Value Care in Medical Hospitalized Patients» (LUCID) kann ein solches Überwachungsinstrument in den fünf Schweizer Universitätsspitälern eingerichtet werden. Dieses nationale Register soll Überbehandlungen, deren Entwicklung in der letzten Dekade und die klinischen Folgen für Patientinnen und Patienten aufzeigen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse können konkrete Verbesserungen der Pflegequalität erreicht werden [6]. «Dies hängt jedoch vom öffentlichen und politischen Willen ab», erklärt PD Dr. med. Marie Méan, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois. Sie ist eine der Projektleiterinnen und fügt an: «Die Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks funktioniert sehr gut. In kurzer Zeit konnte eine modulare, SPHN-konforme IT-Architektur für LUCID entwickelt werden, die auch für andere Anwendungen zur Verfügung steht. Die erste Dateneinspeisung in BioMedIT erfolgt noch in diesem Herbst. Dies sind Daten von 100 000 Patientinnen und Patienten, die zwischen 2014 und 2023 hospitalisiert wurden.» Erste Ergebnisse würden für 2024 erwartet. Um einen sparsamen Umgang mit Blutkonserven zu gewährleisten, soll als erster medizinischer Prozess die Verabreichung von Bluttransfusionen untersucht werden.

Wie die Zukunft aussieht

Konsolidierung 2025–2028
  • Die zentralen Dienste und Infrastrukturen des SPHN-DCC, die die Auffindbarkeit, den Zugang, die Interoperabilität und die Analyse von Daten in einer sicheren IT-Umgebung gewährleisten, sollen weiter konsolidiert werden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken.
  • Das Dienstleistungsangebot des SPHN-DCC kann erweitert werden.
  • Eine erweiterte Datennutzung ist denkbar, zum Beispiel datenbasierte Dienstleistungen für die öffentliche Verwaltung, die Industrie, Fragestellungen im Bereich Public Health, Qualitätssicherung oder Marktzulassung.
  • Neben Spitälern können auch weitere Datenquellen hinzukommen, wie andere Gesundheitsdienstleister, personenbezogene Daten, zum Beispiel von Weareables [9].
Nach 2028
  • Die breite Nutzung umfangreicher Gesundheitsdaten für die Forschung und weitere Anwendungen soll auch langfristig sichergestellt werden. Es gibt daher Überlegungen, das SPHN-DCC nach 2028 in die «Koordinationsplattform Klinische Forschung» [10] zu integrieren. Diese Plattform könnte einem «Nationalen Zentrum für Gesundheit und Forschung» angegliedert werden.
1 Personalisierte Gesundheit [Internet]. Personalisierte Gesundheit. [zitiert 4. September 2023]. Verfügbar unter: https://www.samw.ch
2 SPHN – Swiss Personalized Health Network (SPHN) [Internet]. SPHN. [zitiert 13. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/
3 Ongoing projects [Internet]. SPHN. [zitiert 4. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/network/projects/
4 Project page_NDS_IICU [Internet]. SPHN. [zitiert 18. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/network/projects/project-page_nds_iicu/
5 Project Page_NDS_SPO [Internet]. SPHN. [zitiert 28. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/network/projects/project-page_nds_spo/
6 Project page_NDS_SwissPedHealth [Internet]. SPHN. [zitiert 19. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/network/projects/project-page_nds_swisspedhealth/
7 Project page_NDS_LUCID [Internet]. SPHN. [zitiert 19. September 2023]. Verfügbar unter: https://sphn.ch/network/projects/project-page_nds_lucid/
8 Basel SG für AIM (SGAIM) 4002. smarter medicine – gegen Über- & Fehlbehandlung – smarter medicine – gegen Über- & Fehlbehandlung – smarter medicine [Internet]. 2023 [zitiert 20. September 2023]. Verfügbar unter: https://www.smartermedicine.ch/de/home
9 Swiss Personalized Health Network (SPHN). The SPHN Data Coordination Center (SPHN-DCC): Consolidating the SPHN infrastructures beyond 2024 [Internet]. Zenodo; 2023 Sep [zitiert 21. September 2023]. Verfügbar unter: https://zenodo.org/record/7919469
10 Koordinationsplattform Klinische Forschung [Internet]. Koordinationsplattform Klinische Forschung. [zitiert 20. September 2023]. Verfügbar unter: https://www.samw.ch