Herausforderungen der Psychiatrie

Herausforderungen der Psychiatrie

Organisationen
Ausgabe
2023/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1300950453
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(46):42-44

Affiliations
a Prof. Dr. med., Vorstand Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
b Dr. med., Vorstand SGPP
c Dr. med., Präsidentin SGPP

Publiziert am 17.11.2023

Massnahmen
Die Nachfrage für psychiatrisch-psychotherapeutische Leistungen wird steigen und die Grundlagen der psychiatrischen Versorgung müssen angepasst werden. Insbesondere sollte die sozialpsychiatrische Versorgung, welche die interprofessionelle Behandlung und Betreuung von komplexen polymorbiden psychischen Erkrankungen ermöglicht, gefördert werden. Darüber hinaus sollten die Rahmenbedingungen für die Implementierung von digitalen Therapieanwendungen in der ambulanten Versorgung geschaffen werden.
Weltweit nimmt die Anzahl besonders vulnerabler Menschen zu, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung schwerwiegender psychischer Erkrankungen haben [1, 2]. In den USA beispielsweise hat sich von 2008 bis 2018 die Einjahresprävalenz psychischer Erkrankung von 17,7 auf 19,1 pro 100 000 Einwohner erhöht, was einem Anstieg um 8% entspricht. Die Prävalenz schwerer psychischer Erkrankungen erhöhte sich sogar um 24% [3]. Besonders betroffen sind Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren. Gleichzeitig ist aufgrund des Anstiegs der älteren Bevölkerung von einer signifikanten Zunahme demenzieller Erkrankungen um 120% auszugehen [4]. Diese Zahlen spiegeln sich auch in den Kosten wider, die durch psychische Krankheiten verursacht werden. Gemäss OECD [5] beliefen sich die direkten und indirekten Kosten in der EU für das Jahr 2015 auf 146 Milliarden Euro (4,8% des BIP) und in der Schweiz auf 27 Mia CHF (4,2%). Aufgrund der demographischen Entwicklung ist zu erwarten, dass diese Kosten zu einer zunehmenden Belastung insbesondere für die jüngere Bevölkerung werden [6].
Die sich verändernden Klimabedingungen werden diese Tendenzen verstärken. Es wird angenommen, dass ein Temperaturanstieg von einem Grad Celsius das Risiko für psychische Erkrankungen um etwa 1% erhöht [7]. Naturkatastrophen, Nahrungsmittel- und Wasserknappheit, Armut, politische Instabilität, Kriege und erzwungene Migration, ebenso wie das Phänomen des «Eco Distress» [8], tragen zu einer weiteren Zunahme dieses Risikos bei, insbesondere bei der jüngeren Bevölkerung [9]. Die Migration wird die psychiatrischen Gesundheitssysteme industrialisierter Länder vor neue Herausforderungen stellen. Sowohl die FMH als auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) haben bereits Massnahmen ergriffen, wie etwa die Initiative «Planetary Health» [10] respektive die Task-Force «Psyche und Klima» [11].
Das Schweizer Gesundheitssystem ist mit einem zunehmenden Mangel an Fachkräften in den Medizinalberufen konfrontiert. So sind beispielsweise die vorhandenen Medizinstudienplätze an Schweizer Hochschulen bei weitem nicht ausreichend, um den Bedarf an Ärzten und Ärztinnen durch inländischen Nachwuchs zu decken [12]. Dies trifft besonders auf die Psychiatrie zu, die seit vielen Jahren und zunehmend darauf angewiesen ist, ihren ärztlichen Nachwuchs im Ausland zu rekrutieren. Obwohl die Schweiz derzeit über eine hohe Anzahl an Fachärzten und Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie verfügt [13], wird diese Zahl in den nächsten Jahren aufgrund der Altersstruktur deutlich zurückgehen [14]. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Bereich der psychiatrischen Pflege. Massnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels im medizinischen Bereich, wie die Erhöhung der Medizinstudienplätze oder die Umsetzung der Pflegeinitiative, werden ihre Wirkung bestenfalls mittel- bis langfristig entfalten.
Die im letzten Jahr eingeführte Änderung in der psychologischen Psychotherapie vom Delegations- zum Anordnungsmodell hat den Zugang zur Psychotherapie erleichtert. Dieser Schritt zielt darauf ab, insbesondere die Behandlungsmöglichkeiten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verbessern und die Versorgungssituation für komplexe psychische Erkrankungen in Krisen- und Notfallsituationen sowie diejenige in Randregionen zu stärken. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob dieser Wechsel, der zu einem grösseren Angebot führt, tatsächlich die Defizite und Engpässe in der psychotherapeutischen Versorgung beheben wird. Erfahrungen im Ausland legen nahe, dass der erleichterte Zugang zur Psychotherapie dazu führen kann, dass leichtere Fälle bevorzugt werden, und dass Behandlungen, die eine aufwändige multiprofessionelle Betreuung und notfallpsychiatrische Fachkenntnisse erfordern, problematisch bleiben.

Versorgung psychischer Erkrankungen in der Schweiz

Die vom schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) gemachten Erhebungen zeigen einen steigenden Versorgungsbedarf an [15]. Aktuell leiden rund 15% der Schweizer Bevölkerung an einer subjektiv starken psychischen Belastung; bei 5% liegt eine ärztlich diagnostizierte Depression vor. Die Prävalenz hat zwischen 2012 und 2017 erheblich zugenommen und somit auch die Nachfrage für ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Leistungen. Der Bedarf ist besonders ausgeprägt bei Kindern und Jugendlichen, bei welchen die Zunahme in Privatpraxen 26% und in Spitalambulatorien sogar 43% beträgt.
Die stationäre psychiatrische Versorgung in der Schweiz ist sehr gut ausgebaut. Die Bettenzahl liegt bei 1 bis 1,5 pro 1000 Einwohner, in Deutschland beträgt sie rund 0,5 pro 1000 Einwohner. Zwischen 2002 und 2018 stieg in der Schweiz die Hospitalisierungsrate in psychiatrischen Kliniken um 27% auf etwa 8 pro 1000 Einwohner, was einherging mit einer Verkürzung der Aufenthaltsdauer. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern übernehmen niedergelassene Psychiater und Psychiaterinnen einen signifikanten Teil der psychiatrischen Versorgung, während die Beteiligung anderer, nicht-ärztlicher Berufsgruppen vergleichsweise gering ist [16]. Das schweizerische Gesundheitssystem gehört weltweit zu den besten [17]; es hat im internationalen Vergleich aber auch die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben. Jedoch liegen die Ausgaben für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung prozentual an letzter Stelle [18].
Eine schweizerische Besonderheit ist die unterschiedliche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen durch Kantone und Versicherungen, was für den Ausbau von intermediären und ambulanten Angeboten nicht förderlich ist und die Übergänge zwischen stationären und ambulanten Settings erschwert.

Psychiatrische Versorgung der Zukunft

Vor dem Hintergrund des weiter zunehmenden ärztlichen Fachkräftemangels und um den zukünftigen Bedarf an Versorgungsleistungen bewältigen zu können, ist es entscheidend, die Strukturen und Prozesse der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung kritisch zu überdenken. Insbesondere sollte die sozialpsychiatrische Versorgung, welche die interprofessionelle Behandlung und Betreuung von komplexen polymorbiden psychischen Erkrankungen ermöglicht, gefördert werden. Derzeit existieren solche Teams praktisch ausschliesslich in Spitalambulatorien, deren Leistungen auf kantonaler Ebene subventioniert werden müssen, da sie im ambulanten Tarifsystem TARMED nicht abgebildet sind. Auch im neuen Tarifsystem TARDOC sind solche Leistungen nicht vorgesehen. Hier besteht dringender tarifpolitischer Handlungsbedarf.
Darüber hinaus sollten die Rahmenbedingungen für die Implementierung von digitalen Therapieanwendungen in der ambulanten Versorgung geschaffen werden. Es existiert Evidenz, dass subsidiäre internetbasierte psychiatrische Therapieverfahren [19, 20] sowie entsprechende telemedizinische Massnahmen in der Pflege [21] eine gute Wirkung bei niedrigeren Kosten erzielen können. Allerdings sind diese Massnahmen im aktuellen schweizerischen Tarifsystem nicht vorhanden, wodurch eine wertvolle Ressource ungenutzt bleibt. Daher ist auch in diesem Bereich eine Anpassung notwendig.
In der Schweiz ist der direkte Zugang zu den ambulanten Leistungen der Psychiatrie und Psychotherapie ein entscheidendes und zentrales Angebot der Grundversorgung, das aufrechterhalten werden muss. Gemäss einer Analyse des Büro BASS [16] suchen in der Schweiz 42% der Befragten mit einer psychischen Erkrankung direkt einen Psychiater oder eine Psychiaterin auf; im Vergleich dazu tun dies in Deutschland nur 9% und in den Niederlanden 13%. Dieser rasche und direkte Zugang spiegelt sich in den Kosten für die psychiatrische Gesundheitsversorgung wider, die in der Schweiz mit 9,2% der gesamten Gesundheitskosten deutlich tiefer ausfallen im Vergleich zu Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden, die ein Gatekeeping-System haben und wo der Anteil der Psychiatriekosten bei 20,9% liegt, also mehr als doppelt so hoch ist. Gleichzeitig waren die Wartezeiten für eine ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung in der Schweiz zum Zeitpunkt dieser Befragung mit 6–7 Wochen deutlich kürzer als in Deutschland mit 23 Wochen oder den Niederlanden mit 10,4 Wochen.
Der kostengünstige direkte Zugang zu einer ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung und Diagnostik von psychiatrischen Erkrankungen als Grundversorgung trägt zur Verbesserung des Krankheitsverlaufs und der Prognose bei, reduziert die Chronifizierung, krankheitsbedingte Arbeitsausfälle, Invalidisierung sowie Suizidraten und führt insgesamt zu einer Abnahme sowohl der direkten als auch der indirekten Kosten. Gemäss WHO ergibt jeder Dollar, der in die Behandlung von Ängsten und Depressionen investiert wird, vier Dollar Gewinn in Form von besserer Gesundheit und höherer Arbeitsproduktivität [22].
Es ist jedoch notwendig, nicht medizinische Fachkräfte wie Pflegeexperten und -expertinnen bzw. «Advanced Practice Nurses», besonders auch im Rahmen von Spitexmodellen, in die ambulante Versorgung einzubeziehen, um die Bausteine für gestufte ambulante, intermediäre und stationäre Angebote zu ergänzen. Solche «stepped care» Versorgungsmodelle haben sich als qualitätsfördernd und kosteneffizient erwiesen [23]. Das derzeit geltende schweizerische Tarifsystem verunmöglicht es, eine solche Massnahme umzusetzen, weswegen solche integrierten Behandlungsangebote nur mittels kantonaler Subventionen kostendeckend betrieben werden können. Deswegen sind Anpassungen an der Tarifstruktur und insbesondere die Implementierung eines einheitlichen Finanzierungsmodells wie EFAS unerlässlich.
Die genannten Massnahmen sind in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen des Nationalen Forschungsprogramms 74 [24], gemäss welchen die zukünftige Gesundheitsversorgung in der Schweiz koordinierter, interprofessioneller und vermehrt auf Evidenz basierend gestaltet werden sollte. Nur so kann mit den vorhandenen Mitteln auch in Zukunft die hohe Qualität des schweizerischen Gesundheitswesens bzw. der Versorgung psychischer Erkrankungen erhalten werden. Hier sind Politik und Fachverbände gefordert, um entsprechende Massnahmen zu ergreifen.
erich.seifritz[at]bli.uzh.ch
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