Diese Neuroprothese korrigiert Gehstörungen

Wissen
Ausgabe
2024/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1307484274
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(1-2):78-79

Publiziert am 10.01.2024

Parkinson
Bewegungsstörungen treten bei den meisten Menschen mit fortgeschrittener Parkinson-Krankheit auf. Forschenden aus Lausanne ist es nun gelungen, die Gangstörungen eines 62-jährigen Patienten durch elektrische Stimulation des Rückenmarks zu beheben. Eine neuartige Neuroprothese machte dies möglich.
Marc war 36 Jahre alt, als er 1995 die Diagnose Parkinson erhielt. Diese Krankheit führt zum Absterben der Dopamin produzierenden Nervenzellen, die an der Bewegungssteuerung beteiligt sind. Im Jahr 2004 wurde ihm ein Implantat zur Tiefenhirnstimulation (THS) eingesetzt, um die Symptome Zittern und Steifheit zu lindern. «Damals konnte ich weder gehen noch mich bewegen», sagt der heute 63-jährige Architekt aus Bordeaux. «Die Hirnstimulation hat mir das Leben gerettet.»

Das Phänomen des «Freezing»

Doch einige Jahre später entwickelte er eine Bewegungsstörung. Er bewegte sich nur noch in kleinen, asymmetrischen Schritten. Stand er vor einer Tür oder in einem Aufzug, begann er hin und her zu trampeln und auf der Stelle zu treten, ein Phänomen, das «Freezing» genannt wird. Häufig verlor er auch das Gleichgewicht und stürzte, bis zu zwei- oder dreimal am Tag.
Diese Defizite treten bei 90% der Menschen mit fortgeschrittener Parkinson-Krankheit auf. «Die verfügbaren Therapien, sei es die THS oder die Dopamin-Ersatztherapie, sind jedoch nicht wirksam gegen die Probleme beim Gehen», erklärt Jocelyne Bloch, assoziierte Professorin an der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne.
Deshalb hat die Forscherin, die mit dem Neurowissenschaftler Prof. Grégoire Courtine von der ETH-Lausanne zusammenarbeitet, ihr Augenmerk nicht auf die Teile des Gehirns gerichtet, die vom Verlust der Dopamin produzierenden Neuronen betroffen sind, sondern auf die Regionen des Rückenmarks, die für die Aktivierung der Beinmuskulatur verantwortlich sind. Dieser Ansatz wurde bereits erprobt: Die beiden Wissenschaftler, Mitbegründer des Forschungszentrums NeuroRestore, haben gelähmten Menschen geholfen, ihre Beine dank elektrischer Impulse an das Rückenmark wieder zu benutzen.

Die sechs «Hotspots»

In Zusammenarbeit mit dem Neurowissenschaftler Erwan Bezard vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und der Universität Bordeaux entwickelten sie zunächst ein Modell, das die durch die Parkinson-Krankheit verursachten Bewegungsprobleme aufschlüsselt: verringerte Schrittlänge, verlangsamte Schrittfrequenz, übermässig gebeugte Haltung und behinderte Rumpfbewegungen. Auf diese Weise konnten sie sechs «Hotspots» im lumbalen Bereich des Rückenmarks identifizieren, die für die Aktivierung der Muskeln verantwortlich sind, die das Gehen ermöglichen. Das berichten die Forschenden in ihrer Studie, die in Nature Medicine veröffentlicht wurde [1].
Dieses Modell wurde dann an Primaten und ab 2021 an Marc getestet. «Wir haben ihm ein Elektrodenfeld direkt über dem Rückenmark implantiert, genau an der Stelle, die wir stimulieren wollten», sagte Jocelyne Bloch in einer Pressekonferenz im vergangenen November in Lausanne. Ein elektrischer Impulsgenerator, der mit den Elektroden verbunden ist, wurde ebenfalls unter seine Bauchhaut eingesetzt.
Das Verfahren an sich ist nicht schwierig. Die Schwierigkeit besteht darin, die sechs «Hotspots» genau zu lokalisieren und ein Protokoll zu entwickeln, um sie zu aktivieren. «Wir haben ein algorithmisches Modell entwickelt, das auf Marcs Probleme zugeschnitten ist», sagt Grégoire Courtine. Das Modell sieht vor, ihn auf der rechten Seite stärker zu stimulieren, um seine Asymmetrie zu beheben, mehr Beugung, Streckung und Vorwärtsbewegung zu induzieren und seine Gesässmuskeln gezielt anzusprechen, um seine Stabilität zu verbessern.

Er gewann seine Selbstständigkeit zurück

Ein Teil des Puzzles fehlte jedoch noch: ein Gerät, das Marcs Laufabsichten erkennt und mit den elektrischen Impulsen der Neuroprothese synchronisiert. Dazu wurden Sensoren an seinen Beinen angebracht, die «die Abfolge der Ereignisse bei jedem Schritt erfassen und diese Informationen an die Neuroprothese weiterleiten», erklärt Jocelyne Bloch. So kann das Gerät in einem geschlossenen Regelkreis arbeiten, ohne dass der Patient bewusste Impulse geben muss.
Das Gerät wurde an Marc getestet, zuerst im liegenden und dann im stehenden Zustand. «Sobald es eingeschaltet ist, werden die Probleme beim Gehen behoben», sagt Grégoire Courtine. Marcs Gleichgewicht wurde verbessert, seine Schritte wurden länger und er hatte keine «Freezing»-Gefühle mehr. Ein Video zeigt, wie er sich ohne Stolpern oder Stehenbleiben in einem Parcours mit Türrahmen, steilen Kurven und engen Gängen bewegt. Nach zwei Monaten Training konnte er das Gerät mit nach Hause nehmen – zusammen mit einem Tablet und einer Smartwatch, um es zu steuern. «Nachts und wenn ich lange sitze, schalte ich das Gerät aus, um das Kribbeln in den Beinen zu vermeiden», sagt Marc.
Dank der Neuroprothese hat er seine Unabhängigkeit wiedererlangt. «Ich kann bis zu fünf Kilometer ohne Pause gehen, ruhig in einen Aufzug und sogar Treppen steigen, was früher unmöglich war. Das gibt mir ein unglaubliches Wohlgefühl.»

Einige Vorbehalte bleiben

Er gibt zu, dass das System nicht perfekt ist. «Man muss an alles denken, was man tut», erklärt er. «Ein Augenblick der Unkonzentriertheit und man fällt hin.» Jocelyne Bloch erwähnt ihrerseits die Schwankungen, die Marc im Laufe des Tages zeigt. «Je nach Müdigkeit, Medikamenten, die er einnimmt, und sogar nach einer Zigarette verändern sich seine Bewegungsstörungen in ihrer Intensität und erfordern eine ständige Anpassung der Neuroprothese.»
Dank einer Spende der Michael J. Fox Foundation in Höhe von einer Million US-Dollar werden ab 2024 klinische Studien mit sechs neuen Patienten beginnen. In Zusammenarbeit mit der Onward-Medical-Gesellschaft arbeiten Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine auch an der Entwicklung einer kommerziellen Version der Neuroprothese. Dabei geht es insbesondere um die Entwicklung von vernetzten Schuhen, die die Absicht des Gehens erkennen.
Langfristig hoffen die beiden Forscher, diese externen Sensoren durch ein Gehirnimplantat ersetzen zu können. «Wir könnten das Implantat zur Tiefenhirnstimulation, das bei einem Grossteil der Parkinson-Patienten eingesetzt wird, nutzen, um die Bewegungsabsichten direkt im Gehirn zu erfassen», erklärt Grégoire Courtine. Eine «digitale Brücke», die das Gerät wirklich autonom macht.
1 Milekovic, T., Moraud, E.M., Macellari, N. et al. A spinal cord neuroprosthesis for locomotor deficits due to Parkinson’s disease. Nat Med 29, 2854–2865 (2023). https://doi.org/10.1038/s41591-023-02584-1

Kommentare

Mit der Kommentarfunktion bieten wir Raum für einen offenen und kritischen Fachaustausch. Dieser steht allen SHW Beta Abonnentinnen und Abonnenten offen. Wir publizieren Kommentare solange sie unseren Richtlinien entsprechen.