Eine Gefahr für die neurologische Versorgung

Organisationen
Ausgabe
2024/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1366636589
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(12):

Affiliations
a Dr. med., Beisitzerin SNG-Vorstand
b Dr. med., Präsidentin Swiss Association of Young Neurologists (SAYN)
c Prof. Dr. med., Präsident SNG

Publiziert am 20.03.2024

Höchstzahlenverordnung
Die Kantone können einen Zulassungsstopp für neue Ärztinnen und Ärzte verhängen, wenn in einem Fachgebiet die definierte Höchstzahl erreicht ist. Für die Neurologie liegt der aktuelle Versorgungsgrad von 100% jedoch deutlich unter dem Bedarf. Eine sich daran orientierende Höchstzahlenbegrenzung führt zu einem bedrohlichen Fachkräftemangel.
Neurologische Krankheitsbilder sind aus Sicht der Schweizerinnen und Schweizer von grosser Relevanz: Sie stehen aktuell an erster Stelle als Ursache von Behinderungen (Abbildung 1) und an zweiter Stelle der Todesursachen [1]. Mehr als die Hälfte der europäischen Bevölkerung (circa 60%) leidet an einer neurologischen Erkrankung [2]. Zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen gehören neben Migräne und neuromuskulären Erkrankungen Schlaganfall und Demenzen, welche einen sehr hohen Einfluss auf die Gesundheitskosten in der Schweiz haben. Angesichts der demografischen Entwicklung der Schweiz ist davon auszugehen, dass die Prävalenz der beiden letzteren Erkrankungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich zunehmen und der medizinische Versorgungsbedarf weiter steigen wird.
Der Zulassungsstopp würde die Patientenversorgung im ambulanten und stationären Bereich sowie in Rehabilitationskliniken negativ beeinflussen.
© Tashatuvango / Dreamstime
Erfreulicherweise hat in den vergangenen 30 Jahren eine therapeutische Revolution in der Neurologie stattgefunden: War das Fach früher primär von diagnostischem Interesse, haben sich inzwischen unglaubliche Fortschritte in den Behandlungsmöglichkeiten mit entsprechenden Auswirkungen auf Lebensqualität und Lebensdauer der Betroffenen ergeben [3, 4]. Viele neurologische Erkrankungen sowie die damit einhergehenden Behinderungen sind bei frühzeitiger Diagnostik und adäquatem Management vermeid- und behandelbar.
Mit den steigenden Patientenzahlen und den verbesserten Behandlungsmöglichkeiten geht ein zunehmender Bedarf an Neurologinnen und Neurologen einher. Gemäss der «Global Burden of Disease»-Studie [2, 6–11] sind in der Schweiz circa 1,6 Millionen Menschen von Kopfschmerzen und Migräne [6], 400 000 von Neuropathien [7], 115 000 von demenziellen Erkrankungen [8] und etwa 100 000 von zerebrovaskulären Erkrankungen [2] betroffen. Etwas seltener sind Epilepsie (knapp 20 000) [9], Parkinson (knapp 15 000) [10] und Multiple Sklerose (knapp 14 000) [11]. Auch wenn ein Teil der Patientinnen und Patienten mit Kopfweh oder Polyneuropathie primär hausärztlich versorgt werden, ist bei sehr konservativer Schätzung von zumindest 1 Million Menschen in der Schweiz – und damit circa 11% der schweizerischen Bevölkerung – auszugehen, die einer ambulanten neurologischen Behandlung bedürfen.
Abbildung 1: Übersicht über die Bedeutung neurologischer Erkrankungen in Europa und in der Welt [5].
© European Journal of Neurology

Bedarf vs. vorhandene Ressourcen

Den Daten der NewIndex, die die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte in den Praxen widerspiegelt, ist zu entnehmen, dass seit mehreren Jahren die Minutage pro Patient pro Jahr konstant circa 90 Minuten entspricht. In den Sprechstunden der Spitäler ist diese aufgrund eines besonderen Patientenguts in den Spezialsprechstunden sowie des Weiterbildungsauftrags als etwas höher anzunehmen. Somit besteht ein ärztlicher Behandlungsbedarf von über 1 500 000 Stunden. Ein Vollzeitäquivalent (VZÄ) leistet an 220 Arbeitstagen pro Jahr 10 Stunden, entsprechend 2200 Stunden (worin administrative Tätigkeiten noch nicht eingerechnet sind). Daraus ergibt sich, dass allein zur ambulanten neurologischen Behandlung der Patientinnen und Patienten bereits jetzt fast 700 Neurologinnen und Neurologen (VZÄ) gebraucht würden.
Abgesehen von der ambulanten Versorgung sind Neurologinnen und Neurologen heutzutage in vielen anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung nicht mehr wegzudenken: Auf Notfallstationen versorgen Sie Patientinnen und Patienten mit akuten neurologischen Erkrankungen (unter anderem Hirnschläge), gewährleisten deren stationäre Betreuung, sind auf den Intensivstationen in die Behandlung und Prognoseabschätzung (inklusive Hirntoddiagnostik) involviert, betreuen Patientinnen und Patienten in Neurorehabilitationen und Memory Clinics. Insgesamt ist für die stationäre Behandlung von einer ähnlich hohen Zahl erforderlicher Neurologinnen und Neurologen auszugehen, sodass gesamthaft der Bedarf bei circa 1400 Neurologinnen und Neurologen liegen dürfte.

Die Prävalenz der Schlaganfälle und Demenzen wird deutlich zunehmen und der medizinische Versorgungsbedarf weiter steigen.

In den letzten Jahren ist die Zahl der Neurologinnen und Neurologen in der Schweiz angestiegen: 2009 waren nur 426, entsprechend 361 Vollzeitäquivalenten (VZÄ), tätig (circa 14‰ der Ärzteschaft), 2015 waren es bereits 570/511 VZÄ (circa 16‰ der Ärzteschaft), und 2022 724/647 VZÄ (19‰ der Ärzteschaft) [12]. Der wesentliche Teil dieser Zunahme trat im Spitalbereich auf. Während 2009 noch etwa gleich viele Neurologinnen und Neurologen im Spital (51%) wie in der Praxis tätig waren, sind die im Spital tätigen Kolleginnen und Kollegen inzwischen mit 57% in der klaren Mehrheit [13]. Deren Zunahme ist nicht zuletzt durch den Auf- und Ausbau der Stroke Units bedingt, nachdem verschiedene Studien zeigen konnten, dass das Outcome von Patientinnen und Patienten mit Hirnschlag durch eine Behandlung auf einer Stroke Unit signifikant verbessert werden konnte [14]. Insgesamt deckt diese Zahl jedoch bei Weitem nicht den oben berechneten Bedarf von circa 1400 Neurologinnen und Neurologen.

Unterdurchschnittliche Versorgung

Mit einer Neurologin beziehungsweise einem Neurologen auf 14 000 Einwohner ist die neurologische Versorgungsdichte in der Schweiz im internationalen Vergleich mit Ländern, deren sozioökonomische Strukturen ähnlich sind, weiterhin unterdurchschnittlich – trotz der Steigerung in den letzten Jahren. Gemäss einer Subanalyse der European Academy of Neurology (EAN) aus den Daten zum Global Disease Burden 2017 [15] besteht in Westeuropa durchschnittlich eine Versorgungsdichte von einer Neurologin oder einem Neurologen (VZÄ) auf 12 000 Einwohner und ist somit deutlich höher als in der Schweiz. Dennoch reicht auch diese angesichts der oben errechneten Zahlen kaum aus, um den neurologischen Abklärungs- und Behandlungsbedarf abzudecken.

Zumindest 1 Million Menschen in der Schweiz – circa 11% der Bevölkerung – bedürfen einer ambulanten neurologischen Behandlung.

Der grosse Bedarf an Konsultationen bei Neurologinnen und Neurologen in der Schweiz spiegelte sich auch in einer Umfrage der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft vom April 2023 wider, in der durchschnittliche Wartezeiten sowohl in den neurologischen Praxen als auch in den Spitalambulatorien erfragt wurden. Teilgenommen haben dabei 188 neurologische Praxen aus 22 Kantonen, 20 Akutkliniken und 13 Rehabilitationskliniken. Dabei zeigte sich, dass die durchschnittlichen Wartezeiten auf einen Termin in der Praxis knapp zwei Monate und in den Spitälern in der allgemeinen Poliklinik 2,5 Monate betragen, in Spezialambulanzen teilweise deutlich länger. Damit gehen relevante Verzögerungen in behandlungsrelevanter Diagnostik und Therapie einher. Zudem verleiten die langen Wartezeiten Patientinnen und Patienten immer öfter dazu, aufgrund des hohen Leidensdrucks eine Notfallstation aufzusuchen, was eine zusätzliche Belastung für die ohnehin stark frequentierten Notfallstationen darstellt [16].

Der Fachkräftemangel verschärft sich

Es ist anzunehmen, dass auch ohne Zulassungssteuerung dem zunehmenden Bedarf in der Betreuung neurologischer Patientinnen und Patienten künftig eine stagnierende bis abnehmende Zahl von fachärztlichem Personal gegenüberstehen wird. 34% der Neurologinnen und Neurologen sind 55 und älter und werden somit in den nächsten 10 Jahren in den Ruhestand treten. Gleichzeitig steigt fachübergreifend der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit Teilzeitpensum, sodass die ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen mit einer grösseren Anzahl von Neurologinnen und Neurologen ersetzt werden müssen.
Bereits jetzt ist der Bedarf an Neurologinnen und Neurologen jedoch bei Weitem nicht mehr aus dem Inland zu decken und dadurch ist die Abhängigkeit vom Ausland im Vergleich zu anderen Fachrichtungen überdurchschnittlich hoch: Derzeit haben 57% der in der Schweiz tätigen Neurologen ein ausländisches Diplom. Diese Auslandsabhängigkeit würde sich durch eine Begrenzung der Niederlassungsmöglichkeiten weiter verschärfen: Wenn nicht wie bisher ein Teil der Kaderärzte an den Spitälern in die Praxis gehen kann, sind die Perspektiven für den neurologischen Nachwuchs sowohl im Spital als auch in der Praxis sehr begrenzt, was zu einer zusätzlichen Abnahme der Attraktivität eines finanziell unterdurchschnittlich dotierten Faches führt.

Negative Auswirkungen

Der Zulassungsstopp hätte somit nicht nur einen negativen Einfluss auf die Versorgung der Erkrankten im ambulanten Bereich, sondern auch im stationären Bereich und in Rehabilitationskliniken. Ein dadurch bedingter Fachkräftemangel würde zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung, zu vermehrten ressourcen- und kostenintensiven Vorstellungen auf den Notfallstationen und Hospitalisationen andererseits führen. Angesichts der langen Weiterbildungsdauer von mindestens 6 Jahren wäre der Fachkräftemangel auch durch eine politische Kurskorrektur nicht in einigen Jahren wieder zu beheben. Die sekundären Auswirkungen des Zulassungsstopps wären in spätestens 10–20 Jahren spürbar, wenn von einer weiteren Zunahme der neurologischen Erkrankungen auszugehen ist.

In Westeuropa liegt die Versorgungsdichte bei einem Neurologen auf 12 000 Einwohner, in der Schweiz bei 1:14 000.

Zusammenfassend entspricht in der Schweiz der berechnete Versorgungsgrad von 100% für das Fach Neurologie bereits jetzt einer Unterversorgung, die sich in den nächsten Jahren aufgrund verschiedener Faktoren weiter verschärfen wird. Eine auf inadäquaten Annahmen basierende Zulassungssteuerung, die diesen Fachkräftemangel zusätzlich beschleunigen wird, hat negative Auswirkungen auf die Patientenversorgung mit vermehrter Nutzung kosten- und ressourcenintensiver Strukturen. Im Interesse unserer Patientinnen und Patienten, aber auch unserer jungen Kolleginnen und Kollegen spricht sich der Vorstand der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft gegen die Anwendung der Höchstzahlenverordnung insbesondere im Fach Neurologie aus und fordert die zuständigen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf, die drohende Unterversorgung abzuwenden und die Datengrundlage auch für andere Fächer kritisch zu prüfen.
aline.locher[at]imk.ch
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2 GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group. Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990–2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet Neurol. 2017;16(11):877–97.
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4 Fischer U, Humm A. Vom diagnostischen zum therapeutischen Fach. Swiss Medical Forum 2022;22 (0506):94–6.
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11 GBD 2016 Multiple Sclerosis Collaborators. Global, regional, and national burden of multiple sclerosis 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol.. 2019;18(3):269–85.
12 Hostettler S, Kraft E. FMH-Ärztestatistik 2020 – die Schweiz im Ländervergleich. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(12):417–22.
13 FMH-Ärztestatistiken 2010–2022: https://www.fmh.ch/themen/aerztestatistik/fmh-aerztestatistik.cfm
14 Stroke Unit Trialists’ Collaboration. Organised inpatient (stroke unit) care for stroke. Cochrane Database Syst Rev. 2013; 11;2013(9).
15 Deuschl G, Beghi E, Fazekas F, Varga T, Christoforidi KA, Sipido E, Bassetti CL, Vos T, Feigin VL. The burden of neurological diseases in Europe: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet Public Health. 2020;5(10).
16 Oggier W. Fachkräftemangel und Bettenschliessungen in Spitälern. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(26):30–2.

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