Was KI für das Medizinstudium bedeutet

Organisationen
Ausgabe
2024/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1443107009
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(22):36-38

Affiliations
a Prof. Dr. med., Dekan Lehre, Medizinische Fakultät, Universität Freiburg
b Prof. Dr. med., Ordinarius und Institutsdirektor für diagnostische und interventionelle Radiologie, Universitätsspital Zürich
c Prof. Dr. iur., Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht und Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Universität Zürich
d PD Dr. med. MME, Lehrdekan der Medizinischen Fakultät, Universität Bern
e Prof. em. Dr., Michigan State University
Rektorat und AI Center, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
f Prof. Dr., Professur für Educational Technology, Institute für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
g Prof. Dr. med. Dr. med. dent., Stv. Klinikdirektor, Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Poliklinik für Oralchirurgie, Universität Zürich
h Prof. em. Dr. med., Universität Zürich 

Publiziert am 29.05.2024

Ausbildung
Künstliche Intelligenz (KI) wird die ärztliche Tätigkeit verändern. Welchen Einfluss hat das auf das heutige Medizinstudium? Künftige Ärztinnen und Ärzte sollten lernen, wie man Fragen an die KI formuliert und die Ergebnisse der KI prüft. Diese Kompetenzen können bereits jetzt in die Ausbildung integriert werden.
Eine Mutter konsultierte mit ihrem siebenjährigen Sohn 17 Ärztinnen und Ärzten und es war immer noch nicht klar, warum der Knabe seit Jahren starke Rückenschmerzen hatte. In ihrer Verzweiflung nahm die Mutter dann ChatGPT zu Hilfe und die Maschine diagnostizierte innert Minuten ein «Tethered Cord Syndrome» («angeheftetes Rückenmark»), eine sehr seltene Krankheit aus dem rheumatischen Formenkreis.
Künstliche Intelligenz wird bereits in der ärztlichen Praxis eingesetzt – in Zukunft aber noch wesentlich häufiger.
© Rokas Tenys / Dreamstime
Die Künstliche Intelligenz (KI) wird bereits jetzt in der ärztlichen Praxis eingesetzt – in Zukunft aber noch wesentlich mehr. Nicht nur bei seltenen Krankheiten, auch bei häufigen Symptomen wie Husten mit Fieber oder Thoraxschmerzen wird die KI die Ärztin oder den Arzt bei der Diagnose unterstützen, ob der Patient eine Lungenentzündung oder – im Fall von Thoraxschmerzen – eine relevante Stenose einer Koronararterie hat. Die KI wird auch Vorschläge machen, welches bei einer individuellen Patientin die wirksamste Therapie ist [1, 2].

KI ist in der Lage, Patientenfragen teilweise präziser und empathischer zu beantworten als Ärztinnen und Ärzte.

KI löst komplexe diagnostische Probleme

In Zukunft wird nicht mehr nur die Ärztin oder der Arzt das Wissen über den Patienten generieren können – welche Krankheit den Beschwerden zugrunde liegt und welches die wirksamste Therapie ist –, sondern auch die KI. Teilweise werden die Methoden heute schon eingesetzt, zum Beispiel zur Identifizierung einer Retinopathie, bei der Differenzierung zwischen harmlosen und tumorverdächtigen Knötchen im Lungen-CT, oder in der Diagnostik von Hautveränderungen. Auch bei der Lösung sehr komplexer diagnostischer Probleme, wie den Case Reports im New England Journal of Medicine, war ChatGPT erfolgreicher als manche erfahrene Fachperson [3]. KI ist auch in der Lage, Patientenfragen teilweise präziser und empathischer zu beantworten als Ärztinnen und Ärzte [4].

Um dem System einen aussagekräftigen und wahrheitsgemässen Prompt zu geben, bedarf es Fachkenntnis und Übung.

Was sollen Medizinstudierende lernen?

Die Künstliche Intelligenz wird die medizinische Tätigkeit früher oder später vermutlich massiv verändern. Die Frage, die sich davon ableitet, ist: Wird oder sollte der Einsatz der KI auch die Ausbildung, konkret das Medizinstudium, verändern?  Was sollen oder müssen die Medizinstudierenden in Zukunft noch lernen, wenn die KI in der Lage ist, medizinisches Wissen zu generieren? 
  1. Man muss der KI die relevanten Fragen stellen und dazu ist meist medizinisches Wissen notwendig. Man muss ihr auch die Befunde der körperlichen Untersuchung eingeben (wobei die Auskultation des Herzens und der Lunge in Zukunft ebenso von der KI übernommen werden könnte); einen neurologischen Status wird wahrscheinlich auch in Zukunft eine dafür ausgebildete Person machen müssen. Bei der KI gilt immer noch der Informatikgrundsatz «Garbage-In-Garbage-Out»: um dem System einen aussagekräftigen und wahrheitsgemässen Prompt zu geben, bedarf es Fachkenntnis und Übung. 
  2. Die Ärztin oder der Arzt muss in der Lage sein, zu beurteilen, ob das Ergebnis eines Algorithmus der KI korrekt ist oder nicht. Dazu ist Erfahrung notwendig, insbesondere die Entwicklung des schwer definierbaren «Bauchgefühls», ob es richtig sein kann oder nicht. Blindes Vertrauen auf die KI kann hier wortwörtlich fatal sein. Dazu ist auch fundiertes medizinisches Wissen nötig. Welches, ist jedoch die grosse Frage. Der Dekan der Medical School in Harvard wurde in einem Interview gefragt, was die Studierenden im KI-Zeitalter noch lernen müssen. Seine Antwort: «the basics». Er hat sich aber nicht dazu geäussert, was die «Basics» sind, und die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Eine der Aufgaben der medizinischen Fakultäten ist es, zu definieren, was im Zeitalter von KI alle Mediziner und Medizinerinnen am Ende des Studiums wissen müssen. Die Frage ist auch, ob das notwendige Wissen in den einzelnen Disziplinen von den fakultären Vertretern einer Disziplin – also den Anatomen, Biochemikern, Chirurgen, Pneumologen – definiert wird, oder von Allgemeinmedizinern und Allgemeinmedizinerinnen mit Praxiserfahrung.
  3. Ärztinnen und Ärzte müssen die Ergebnisse der KI – die zwar aus Wahrscheinlichkeiten erwachsen, aber allzu oft in definitiven Aussagen ausgegeben werden – interpretieren und die Bedeutung der tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten den Patientinnen und Patienten erklären können. Auch in Zukunft wird die ärztliche Fachperson gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Entscheidung treffen, welche diagnostischen Tests noch gemacht werden sollen, und welche Therapie anzuwenden ist.
  4. Einige Medizinerinnen und Mediziner müssen in der Lage sein, die «Nützlichkeit eines Algorithmus» – Korrektheit der Ergebnisse, Verwendbarkeit in der Praxis – zu beurteilen, bevor der Algorithmus im medizinischen Alltag eingesetzt wird. 

Integration der KI im Unterricht

Wie könnte bereits jetzt, bevor die «Basics» definiert sind, die KI im Unterricht als Lernziele integriert werden?
  1. Die Medizinstudierenden kennen und verstehen die wichtigsten Begriffe und Konzepte im Zusammenhang mit KI: Narrow (stark zweckgebundene) gegenüber General KI; Generative vs. Predictive KI, Machine Learning und im Speziellen Deep Learning; Supervised, Unsupervised und Reinforcement Learning (zumal sie an Letzterem aktiv beteiligt sein könnten); sowie Symbolic gegenüber Connectionist KI.
  2. Die Medizinstudierenden haben ein Grundverständnis der Konzepte Künstlicher Intelligenz. Es geht dabei nicht um technische und mathematische Konzepte, sondern um ein Verständnis wie und mit welchen Daten ein Algorithmus generiert wird, geschult wird und wie er validiert wird, bevor er in der Klinik zur Anwendung kommt. Dabei sind auch Konzepte von Bias zu berücksichtigen, da ein Grossteil der Trainingsdaten häufig einem relativ kleinen Kultur- und Lebensumfeld entstammen.
  3. Im Verlauf des Medizinstudiums, vorwiegend in den klinischen Semestern, kann der Einsatz in der Praxis anhand von Beispielen simuliert werden. Basierend auf einer Fallbeschreibung (Vignette) oder auch echten Patienten werden der KI Fragen gestellt. Die Studierenden haben dann die Aufgabe, zu eruieren, ob das stimmt, was die KI als Antwort gibt und die Ergebnisse in eine für die Patientin oder den Patienten verständliche Form bringen. 

Empathie und Verständnis stärker betonen

Wie und in welchem Ausmass und in welcher Zeit die KI die medizinische Tätigkeit verändern wird, kann nicht konkret prognostiziert werden. Da die KI auch Wissensarbeit leistet, wird die KI die Mediziner bei der Wissensgenerierung – Diagnose und Prognose – unterstützen und sie bei einfach zu automatisierenden Aufgaben ersetzen.  Die Wertigkeit von reinem Faktenwissen wird abnehmen, was wiederum Raum im Curriculum frei macht, sofern auch die Examina an die neuen Realitäten angepasst werden.

Um zu beurteilen, ob ein Ergebnis der KI richtig sein kann, ist Erfahrung nötig, insbesondere die Entwicklung eines «Bauchgefühls».

Die Zukunftsforscher haben die Effekte neuer Technologien auf die Automatisierung von Arbeit sehr oft falsch eingeschätzt [5]. Das tatsächliche Ausmass des Einflusses technologischer Revolutionen ist häufig nur im Nachhinein erkennbar, wenn die Technologie selbst bereits derart in den Arbeitsalltag eingegliedert ist, dass sie schon nicht mehr revolutionär erscheint. In gewissen Aspekten kann der Einfluss von KI am Berufsbild des Software-Engineers ermessen werden, wo KI schon seit einigen Jahren als Partnerin von Programmierenden agiert. Dabei ist entscheidend, dass seitens des Engineers klare und fachlich richtige Vorgaben geliefert werden, und dass die Ausgaben des Systems auf Richtigkeit und Sicherheit geprüft werden, sowie an den jeweiligen Kontext angepasst werden.

Der Dekan der Harvard Medical School wurde gefragt, was die Studierenden im KI-Zeitalter lernen müssen. Seine Antwort: «the basics».

Gleichzeitig hinkt der Vergleich, denn im Software-Engineering assistieren KI-Programme in der Entwicklung von Programmen; der Ärzteberuf befasst sich stattdessen mit etwas, was KI nie verstehen kann: Mitmenschen. Die KI kann zwar Empathie und ein Verständnis des Daseins fingieren, jedoch nie haben – dies ist eine Domäne der Ärztin oder des Arztes, die in der Ausbildung gerade in Zeiten der KI stärker betont werden sollte. 

Die Empathie ist eine Domäne der Ärztin oder des Arztes, die in der Ausbildung gerade in Zeiten der KI stärker betont werden sollte.

Auch wenn KI in einzelnen Gebieten schon im Einsatz ist, wissen wir nicht, wie diese KI die Medizin verändern wird. Klar ist jedoch: Sie wird die ärztliche Tätigkeit verändern und neu prägen. Wir sollten die künftigen Ärzte und Ärztinnen darauf vorbereiten.
Johann.steurer[at]uzh.ch
1 Ukalovic D, Leeb B, Rintelen B, Eichbauer-Sturm G, Spellitz P, Puchner R, Herold M, Stetter M, Ferincz V, Resch‐Passini J, Zwerina J, Zimmermann-Rittereiser M, Fritsch-Stork R. Prediction of ineffectiveness of biological drugs using machine learning and explainable AI methods: data from the Austrian Biological Registry BioReg. Arthritis Research & Therapy. 2024; 26: 44.
2 Benary M, Wang XD, Schmidt M, Soll D, Hilfenhaus G, Nassir M, Sigler C, Knödler M, Keller U, Beule D, Keilholz U, Leser U, Rieke DT. Leveraging Large Language Models for Decision Support in Personalized Oncology. JAMA Netw Open. 2023; 6(11): e2343689. 10.1001/jamanetworkopen.2023.43689.
3 Kanjee Z, Crowe B, Rodman A. Accuracy of a generative artificial intelligence model in a complex diagnostic challenge. JAMA. 2023; 330(1): 78-80.
4 Ayers JW et al. Comparing Physician and Artificial Intelligence Chatbot Responses to Patient Questions Posted to a Public Social Media Forum. JAMA Intern Med. 2023; 183, 589-596.
5 Mulgan G. When Science Meets Power. 2024. Polity Press, Cambridge UK.

Kommentare

Mit der Kommentarfunktion bieten wir Raum für einen offenen und kritischen Fachaustausch. Dieser steht allen SHW Beta Abonnentinnen und Abonnenten offen. Wir publizieren Kommentare solange sie unseren Richtlinien entsprechen.