An der Uhr drehen

An der Uhr drehen

Hintergrund
Ausgabe
2024/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2024.1467863596
Schweiz Ärzteztg. 2024;105(26):

Publiziert am 26.06.2024

Langlebigkeit
Ohne Biomarker des Alterns geht in der Langlebigkeitsmedizin nichts. Sie erlauben es erst, die Mechanismen hinter dem Älterwerden zu erfassen – und Therapien dagegen auf Wirksamkeit zu prüfen. In unserer Serie zeigen wir im dritten Teil den Stand der Forschung dazu auf.
Steve Horvath ist 56 Jahre alt – aber auch 53. Er ist 56 gemäss seinem Geburtsdatum, das effektive biologische Alter seines Körpers aber beträgt nur 53. Er hat sich insbesondere mit gesunder Ernährung und Sport gut gehalten. Woher er sein biologisches Alter kennt? Er sitzt an der Quelle, hat der Genetiker und Biostatistiker doch die Messinstrumente, die sogenannten epigenetischen Uhren, selbst entwickelt – entsprechend sind sie auch als «Horvath’s clocks» bekannt.
2011 veröffentlichte Horvath die erste Version einer epigenetischen Uhr, damals war er als Professor an der University of California in Los Angeles tätig, heute forscht er beim Biotechnologieunternehmen Altos Labs in Cambridge. Hinter der Uhr steht die Entdeckung, dass die DNA-Methylierung in all unseren Zellen sich mit dem Alter ändert. Gleichzeitig korreliert die Epigenetik gut mit klinischen Biomarkern wie Blutdruck und Blutzucker. Je höher diese Werte, desto schlechter steht es um unsere Gesundheit und desto älter sind wir gemäss der epigenetischen Uhr. Aufgrund dieser Zusammenhänge war es Steve Horvath auch möglich, weitere Formen epigenetischer Uhren zu entwickeln, die nicht nur das Alter anzeigen. Seine epigenetische Uhr GrimAge zeigt auch, ob unser Sterberisiko erhöht ist oder niedriger, als es aufgrund unseres Alters und Geschlechts zu erwarten wäre [1].

Biomarker ohne Pille

Steve Horvath weiss zwar sein biologisches Alter und noch mehr über seine Zukunft. Trotzdem mahnt er zur Vorsicht: «Es wäre unethisch und wissenschaftlich falsch, den Menschen heute ihre verbleibende Lebenszeit mitzuteilen.» Dazu reiche die Genauigkeit der Vorhersagen nicht aus – und vor allem könne man den Menschen abgesehen von den bekannten Ratschlägen für ein gesundes Leben keine Pille in die Hand geben, um ihr Leben zu verlängern. Hingegeben gebe es etablierte Therapien bei entgleisten etablierten Biomarkern wie Blutdruck und Blutzucker.

Prof. Dr. Steve Horvath

Erfinder der epigenetischen Uhren

«Es fehlt eine Standardisierung und nicht alles ist validiert. Es herrscht ‘Wilder Westen’ bei den Biomarkern.»

So sind es bisher vor allem Biohacker und gewisse Wellness-Institute, welche sich damit beschäftigen, für sich oder ihre Kundinnen und Kunden das biologische Alter zu messen. Wobei Horvath wiederum warnt: «Es gibt inzwischen unzählige epigenetische Uhren auf dem Markt. Zum Teil verwenden sie meinen Namen, aber ich habe nichts damit zu tun. Es fehlt eine Standardisierung und nicht alles ist validiert. Es herrscht ‘Wilder Westen’ bei den Biomarkern.»

Weitere Marker nötig

Diese Unübersichtlichkeit betrifft nicht nur die epigenetischen Marker. So gab es in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Versuchen, den Alterungsprozess messbar zu machen. Die Notwendigkeit dazu bestätigt Horvath: «Die epigenetischen Uhren reichen nicht.»
Für den Biologen Prof. Dr. Andreas Simm, Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Altern im deutschen Halle und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie sind die epigenetischen Uhren derzeit der beste einzelne Biomarker für das Altern. «Allerdings müssen sie in Kohortenstudien noch weiter validiert werden.» Auch er wünscht sich zusätzliche Marker: «Das Ziel muss es sein, ein Gesamtbild des Menschen zu erhalten. Dazu können unterschiedliche Marker beitragen – von der herkömmlichen klinischen Diagnostik über funktionelle Tests, etwa die Gehgeschwindigkeit oder die Handkraft, bis zu neuartigen molekularen Markern.»

Für den Biologen Andreas Simm sind die epigenetischen Uhren derzeit der beste einzelne Biomarker für das Altern.

Simm war 2008 bis 2013 am europäischen Grossprojekt MarkAge beteiligt. 25 Forschungsgruppen fassten damals die zehn wichtigsten Biomarker zu einem Altersscore zusammen. Dazu gehörten vier DNA-Methylierungsmarker, immunologische und oxidative Stressmarker sowie bestimmte Hormone, Stoffwechselmarker und Proteine [2]. Interessanterweise beinhaltete der Score bei Männern und Frauen unterschiedliche Marker.

Mechanismen, nicht Krankheiten

Grundsätzlich wichtig ist gemäss Andreas Simm, dass Biomarker nicht Krankheiten abbilden, sondern die dahinterliegenden Mechanismen des Alterns. Dabei sei der Übergang von Alter zu Krankheit ein Kontinuum, das Alter an sich aber keine Krankheit. Das sieht auch Steve Horvath so: «Wir sollten das Altern nicht wie Rost am Auto als Schaden betrachten. Altern ist programmiert, es ist eine Kontinuität, vom Anfang unserer Entwicklung an.» So habe etwa die Epigenetik zu Beginn des Lebens Vorteile: Die Methylierung erlaubt es den Zellen, eine Identität als spezialisierte Zellen anzunehmen. Im späteren Leben sei dies nicht mehr nötig, dann erwiesen sich die Methylierungen oft als eher schädlich.
Das Zusammenspiel der vielfältigen beteiligten Faktoren beim Altern ist komplex. Epigenetische Methylierungen beispielsweise haben die Funktion, Gene als aktiv ein- oder auszuschalten. Gleichzeitig, so schätzt Horvath, sind aber rund 40% der epigenetischen Signatur wiederum genetisch festgelegt. Unsere Lebensspanne sei auch von den Eltern mitvererbt: «Es gibt Langlebigkeitsgene. Wir wissen, dass Kinder von Menschen, die länger als 100 Jahre leben, ebenfalls eine grössere Chance haben, ein hohes Alter zu erreichen.»
Im Laufe des Lebens erworbene genetische Mutationen gehören aber nicht zu den Markern des Alterns, sagt Andreas Simm. Sie könnten zwar ein zusätzliches Risiko für Krankheiten darstellen, die einfache Zahl der Mutationen im Körper korreliere aber nicht mit unserem Alter. Ausserdem wüssten wir noch längst nicht von jeder Mutation, ob sie sich negativ oder positiv auf unsere Gesundheit auswirke.

Proteine helfen mit

Eine weitere Gruppe wichtiger Biomarker stellen Proteine dar, wie die Forschung immer deutlicher zeigt. Der Schweizer Immunologe und Altersforscher Prof. Dr. Tony Wyss-Coray arbeitet an der Stanford University mit Blutplasmaproteinen aus bestimmten Organen. Es gelang ihm, organspezifische Alterungsunterschiede zu messen und zu zeigen: Eine beschleunigte Alterung der Organe ist mit einem höheren Krankheits- und Sterberisiko verbunden. So haben etwa Personen mit beschleunigter Herzalterung ein um 250% erhöhtes Risiko für eine Herzinsuffizienz [3].
Proteine machen es auch möglich, Prozesse der Seneszenz abzubilden. Zellen, die sich nicht mehr teilen, verbleiben im Körper und führen über den sogenannten Seneszenz-assoziierten Sekretorischen Phänotyp (SASP) zu Entzündungsprozessen. Die im SASP enthaltenen Proteine lassen sich im Blut nachweisen und korrelieren gemäss Studien mit dem chronologischen wie auch einem beschleunigten biologischen Alter [4]. Zudem gelten sie als zentrale Treiber chronischer Krankheiten wie Krebs und neurodegenerativer sowie Herzerkrankungen [5].
Das Portfolio relevanter Biomarker des Alterns wird somit immer umfangreicher – und könnte noch weiter zunehmen. «Fettsäuren als Bestandteile von Zellen sind schwierig zu messen, wären aber ebenfalls wichtig, um gewisse Prozesse abzubilden. Und es ist bisher schwierig, die individuelle Kapazität eines Menschen zur Reparatur von Zellschädigungen zu messen», sagt Andreas Simm.

Kein Konsens in Sicht

Steve Horvath geht nicht davon aus, dass die Altersforschung sich auf einen Konsens von Biomarkern wird einigen können. Er plädiert dafür, dass ein unabhängiges Fachgremium wie eine Gesundheitsbehörde eine Entscheidung trifft, welches Set an Biomarkern in Zukunft verwendet werden soll: «Eine Standardisierung würde der Forschung und Entwicklung von Therapien enorm helfen.»
Sinnvoll wäre dabei gemäss Simm, biologische wie funktionelle Marker in ein gemeinsames Modell zu integrieren, das ausserdem die selbst eingeschätzte Gesundheit sowie psychosoziale und Umweltfaktoren mitberücksichtigt: «Wir brauchen ein umfassendes Bild des Alterns – eine universelle Definition von Alter und Gesundheit und einheitliche Messmethoden.» Wichtig sei zudem, entsprechende Studien weltweit durchzuführen, um auch ethnische genetisch bedingte Unterschiede zu erfassen.

Seneszente Zellen verhindern

Das würde es auch vereinfachen, in Studien die Wirksamkeit präventiver und therapeutischer Ansätze zu prüfen, um den Alterungsprozess zu beeinflussen. Auch in dieser Hinsicht ist in der Langlebigkeitsmedizin viel im Gange. Am weitesten fortgeschritten sind dabei gemäss Andreas Simm Versuche mit Medikamenten, um seneszente Zellen zu zerstören (Senolytika) oder ihre entzündungsfördernde Wirkung zu unterdrücken (Senomorphika). Erste klinische Studien laufen, nachdem es bei Mäusen gelungen war, diese mit entsprechenden Präparaten länger und länger gesund leben zu lassen. «Das sind erfolgversprechende Ansätze. Ich denke, in zwei Jahren werden wir wissen, was wir damit erreichen können», sagt Simm.

Das biologische Alter ist nicht in Stein gemeisselt. Lebe ich ab heute gesünder, kann ich es bereits beeinflussen.

Insgesamt rechnet er damit, dass bis in rund zehn Jahren deutlich mehr bekannt sein wird über die Mechanismen des Alterns und mögliche Ansätze, den Alterungsprozess zu beeinflussen. Als vielversprechend erachtet er dabei unter anderem auch induzierte pluripotente Stammzellen und therapeutische Proteine. Für Steve Horvath wird die Frage zentral sein, ob eine Senkung des biologischen Alters auch tatsächlich dazu führt, dass eine Person dann länger lebt: «Das ist schwierig nachzuweisen, aber diesen Nachweis der Kausalität einer Therapie brauchen wir schlussendlich.»

Der Traum vom All

Nur: Wozu das alles? Um die gesunde Lebensspanne zu verlängern? Oder etwa doch, um uns 200 Jahre leben zu lassen oder gar unsterblich werden zu lassen, wovon manche in der Langlebigkeitsszene träumen? Steve Horvath war als Jugendlicher in der Tat fasziniert von der Idee, das Lebensalter zu verlängern – insbesondere, um Reisen zu fernen Planeten zu ermöglichen. Heute steht für ihn im Vordergrund, die gesunde Lebensspanne zu verlängern: «Wir können das Altern bisher nicht stoppen. Mit einem entsprechenden Lebensstil kann ich vielleicht zwei bis drei Jahre länger gesund leben. Aber die grosse Frage ist: Können wir die gesunde Lebensspanne auch um zehn Jahre verlängern? Ich hoffe, dass das bald gelingen wird.»
Für Horvath wie Simm ist dabei klar: Der Lebensstil ist – zumindest bisher – der wichtigste Faktor für ein gesundes und möglichst langes Leben. Simm sieht für die Zukunft kein anderes Allerheilmittel, rechnet aber damit, dass eine Kombination verschiedener therapeutischer Ansätze verfügbar sein wird. Diese werden es ermöglichen, grundlegende Mechanismen des Alterns anzugehen und damit mehrere Krankheiten gleichzeitig zu behandeln. «Im besten Fall können wir so die Lebenserwartung und gesunde Lebenserwartung deutlich erhöhen.»
Bis es so weit ist, bleibt die gute Nachricht: Das biologische Alter ist nicht in Stein gemeisselt. Lebe ich ab heute gesünder, kann ich es bereits beeinflussen. So wird Steve Horvath zwar bald seinen 57 Geburtstag feiern. Was seine epigenetische Uhr sagt, darüber kann er aber zu einem guten Teil mitbestimmen.

© Nd3000 / Dreamstime

Kommentare

Mit der Kommentarfunktion bieten wir Raum für einen offenen und kritischen Fachaustausch. Dieser steht allen SHW Beta Abonnentinnen und Abonnenten offen. Wir publizieren Kommentare solange sie unseren Richtlinien entsprechen.