«Du musst nur die Laufrichtung ändern»
Daniel Sollberger Editor-in-Chief
Es scheint, dass wir angesichts der sich häufenden Krisen und realen Krisenerfahrungen kaum noch aus dem sich in den letzten Jahren entwickelnden Krisengefühl herausfinden. Zahlreiche Kriege, auch an Orten, an denen wir sie noch vor wenigen Jahren nie und nimmer erwartet hätten, eine Pandemie mit erheblichem gesellschaftlichem Krisenpotential, Umweltkatastrophen und Klimawandel tragen Charakteristika von Krisen, entweder unerwartet und unberechenbar oder aber erwartet und berechenbar, aber mit der Befürchtung belegt, dass gegensteuernde Massnahmen zu wenig beherzt und konsequent umgesetzt werden, um eine Krise abzuwenden. Das Diktum – bei einer Google-Suche mit Vorliebe von Wirtschaftsunternehmen und sogenannten Krisenmanagern zitiert und (ohne Quellenangabe) Max Frisch zugewiesen –, dass eine Krise ein produktiver Zustand sein könne, man ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen müsse, mag da wie ein Hohn klingen. Und man möchte sarkastisch ein Zitat aus der «Kleinen Fabel» von der Katze an die Maus von Franz Kafka anfügen: «‹Du musst nur die Laufrichtung ändern›, sagte die Katze, und frass sie.»
Nichtsdestotrotz – vielleicht ein Wort des Jahres – stirbt die Hoffnung zuletzt und wahrscheinlich nur zuletzt, wenn unsere gemeinsamen und überlegten Aktivitäten nicht versiegen. Davon zeugen im vorliegenden Heft nicht nur die subjektiven Berichte von zwei durch ihre psychische Krankheit in ihrem Leben geprägten Personen, sondern auch das nachdenklich stimmende Gespräch einer Klinikerin (Isabella d’Orta) mit einem psychiatrischen Experten für Global Mental Health (Benedetto Saraceno). Vor dem Hintergrund der eingangs genannten Krisen mit dem steigenden Druck auf das weltweite Gesundheitswesen entwickelt sich ein Dialog, der die Diskrepanz zwischen psychiatrischer Versorgungsrealität und wissenschaftlich-fachlichem Diskurs ins Zentrum rückt.
Anders als in den medizinischen Nachbardisziplinen wissen wir, dass der epistemologische Status der Diagnose – wesentliche Grundlage für Therapie und Prognose – in der Psychiatrie fragil ist. Dies hat grundlegend mit der philosophischen Konzeption psychischer Störungen zu tun, etwa ob ihr eine realistische oder nominalistische Auffassung zugrunde gelegt wird. Die Fragilität kommt dort zum Ausdruck, wo manche psychiatrischen Erkenntnisse zwar aus der Neurobiologie stammen, bis heute aber kaum Eingang in konkrete Behandlungspläne gefunden haben. So kann man mit den Gesprächführenden zu Recht fragen, ob letztlich nicht die Berücksichtigung von Menschenrechten und das Umsetzen der UN-Behindertenrechtskonvention die Psychiatrie in ihrer Entwicklung massgeblicher vorangebracht hat, als dies die Psychopharmakotherapie, die Vielzahl von Psychotherapieverfahren und andere Interventionen für sich beanspruchen. Stimmt man dieser Analyse auch nur teilweise zu, erfordert der Wille zur Veränderung der psychiatrischen Versorgung eine gemeinsam gestaltete medizinische Kultur, in welcher Führungspersonen in den jeweiligen Institutionen und in ihrem Wirkradius gefordert sind, nicht nur einen therapeutischen Optimismus zu vertreten, sondern diesen zu konkretisieren – am bisher vielleicht wirksamsten in der Reduktion insbesondere von Zwangsmassnahmen auf der einen, dem Ausbau einer ambulanten gemeindenahen Versorgung auf der anderen Seite (wobei letzteres durchaus differenziert zu diskutieren ist, wie ein weiterer Beitrag im Heft zur Frage der stationären Verweildauer zeigt). Nichts Neues, aber ein pragmatischer Ansatz, um die «Identitäts- und Versorgungskrise» der Psychiatrie vielleicht in diesen «produktiven Zustand» zu führen.
Wir wissen ja eigentlich darum, wir müssen bloss die Laufrichtung ändern, bevor es uns die «Katze» sagt.

© Eugen Hunecker / Dreamstime

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