Erster epileptischer Anfall: Bedeutung einer frühen Diagnose und Behandlung
Epilepsie
Peer-review

Erster epileptischer Anfall: Bedeutung einer frühen Diagnose und Behandlung

Übersichtsartikel
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1166740574
Swiss Med Forum. 2024;24:1166740574

Affiliations
a Unité de neuro-réanimation, Service des soins intensifs, Hôpitaux universitaires de Genève, Genève
b Unité d’EEG et d’épilepsie, Service de neurologie, Département de neurosciences cliniques, Hôpitaux universitaires de Genève et Faculté de médecine de Genève, Genève
c Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
d Clinica di Neurologia, Neurocentro della Svizzera Italiana, Ente Ospedaliero Cantonale, Lugano

Publiziert am 26.08.2024

Epileptische Anfälle gehören zu den häufigsten neurologischen Notfällen. Dieser Artikel zeigt, wie wichtig eine schnelle Abklärung und prompte Behandlung bei einem ersten epileptischen Anfall oder einem anfallsähnlichen Ereignis ist und wie die Abklärung frühzeitig in der Notaufnahme eingeleitet werden sollte, um eine frühe Diagnose, die sofortige Einleitung einer Behandlung und die Verbesserung der Prognose zu ermöglichen.

Einleitung

Nach einem epileptischen Anfall werden mehr als 90% der Patientinnen und Patienten in eine Notfallstation überwiesen, wo die Beurteilung eines ersten Anfalls eine schwierige Aufgabe darstellt, da es an Zeit und spezialisierten Neurologinnen und Neurologen, die eine rasche Behandlung gewährleisten, mangelt. Epileptische Anfälle gehören nach Schlaganfällen zu den häufigsten neurologischen Notfällen [1].
Akut symptomatische Anfälle (ASS – «acute symptomatic seizures» –, früher auch provozierte, reaktive oder situationsbezogene Anfälle genannt) sind Anfälle, die gleichzeitig oder in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einer akuten Schädigung des Zentralnervensystems auftreten (in der Regel innerhalb von sieben Tagen [2]) und 40–50% aller Anfälle ausmachen [3]. Ihre Inzidenz liegt bei etwa 40 pro 100 000 Personen, während die Inzidenz nicht provozierter Anfälle (Anfälle, die ohne einen potentiell verantwortlichen klinischen Zusammenhang oder nach Ablauf des für ASS postulierten Zeitraums auftreten) zwischen 50 und 70 pro 100 000 Personen schwankt. Diese Differenzierung ist äusserst wichtig, da sich die Prognose als auch die Behandlung bei ASS- und Nicht-ASS-Anfällen unterscheiden.
In vielen Fällen sind die vermeintlichen Anfälle nicht epileptisch, sondern anfallsähnliche Ereignisse («Imitatoren») (Tab. 1), bei denen keine antikonvulsive Behandlung eingeleitet werden muss. Die häufigsten «Imitatoren epileptischer Anfälle» sind Synkopen, psychogene Anfälle, ischämische Schlaganfälle oder transitorische ischämische Attacken (TIA). Eine umfassende Liste ist in Tabelle 1 aufgeführt.
Bei epileptischen Anfällen handelt es sich oftmals nicht um das erste Ereignis im Leben einer Patientin oder eines Patienten, was mit einer schlechteren Langzeitprognose verbunden ist und eine fachärztliche Anamnese erfordert: Bis zu 50% der Personen, die wegen des Verdachts auf einen ersten Anfall abgeklärt werden, berichten über frühere Ereignisse, die entweder nicht diagnostiziert wurden oder nie ärztliche Beachtung erhielten.

Umfassende Abklärung nach einem ersten Anfall

Die Abklärung sollte mit einer möglichst genauen Anamnese beginnen, die unter anderem die familiäre und persönliche Krankengeschichte der untersuchten Person (schweres Schädel-Hirn-Trauma mit späterem Epilepsierisiko, Schlaganfall usw.), die Umstände des Auftretens des Zustandes (während des Schlafs, beim Erwachen, bei Schlafmangel, bei kürzlicher Einnahme von die Krampfschwelle senkenden Medikamenten, bei Alkohol- oder Benzodiazepin-Entzug) und eine möglichst genaue Beschreibung des Zustandes durch die Zeugen (Kopfversion, Urinverlust, Bewegungen der Extremitäten) beinhaltet. Eine klinische Untersuchung in der Anfangsphase (motorische und/oder neuropsychologische Defizite, seitlicher Zungenbiss, anhaltende Verwirrtheit, Puls, Blutdruck) wenn möglich am Ort des Geschehens ist ebenfalls sehr wertvoll. Anschliessend sollte eine Differentialdiagnose von ASS versus nicht provozierten Anfall gemäss dem in Abbildung 1 vorgeschlagenen diagnostischen Vorgehen erfolgen.
Abbildung 1: Umfassende Abklärung und diagnostisches Vorgehen nach einem ersten Anfall.
ALAT: Alanin-Aminotransferase; ASAT: Aspartat-Aminotransferase; BDZ: Benzodiazepine; CT: Computertomographie; EEG: Elektroenzephalogramm; gGT: Gamma-Glutamyltransferase; MRT: Magnetresonanztomographie; OH: Alkohol; SDH: Subduralhämatom; SHT: Schädel-Hirn-Trauma; T: Tag; ZNS: Zentrales Nervensystem.

Diagnostik

Neben einer ausführlichen Anamnese, Blut- (Elektrolyte, Blutzucker, Noxen, Entzündungssyndrom) und – bei Infektionen und Autoimmunerkrankungen – Liquoranalysen gehören zwei wichtige Untersuchungen zur frühzeitigen Abklärung eines Anfalls oder eines anfallsähnlichen Ereignisses: die Elektroenzephalographie und die zerebrale Bildgebung (Computertomographie oder Magnetresonanztomographie). In der Schweiz wird das Elektroenzephalogramm (EEG) von Neurologinnen und Neurologen mit EEG-Zertifikat interpretiert, wobei nach interiktalen epileptiformen Entladungen (IED) oder – seltener – nach klinischen oder subklinischen Anfällen gesucht wird. IED treten bei <2% der nicht epileptischen Patientinnen und Patienten auf [4], das heisst IED sind ein Marker mit einer sehr hohen Spezifität, aber geringen Sensitivität. Das Fehlen von IED in einem Standard-EEG von etwa 20 Minuten bedeutet nicht, dass keine Epilepsie vorliegt.
Die Ausbeute einer frühen Routine-Elektroenzephalographie wurde in einer gemischten Population von Kindern und Erwachsenen, einschliesslich Kindern im Alter von fünf Jahren, nachgewiesen [5]. IED wurden bei 51% der Patientinnen und Patienten beobachtet, wenn die Elektroenzephalographie innerhalb von 24 Stunden durchgeführt wurde, verglichen mit 39%, wenn sie später erfolgte [5]. Wenn das Routine-EEG normal oder unklar ist, aber der Verdacht auf eine Epilepsie besteht, liefert das Langzeit-Schlaf-EEG (LT-EEG) signifikante zusätzliche Ergebnisse und kann 20–30% mehr IED als das normale Routine-EEG aufdecken [6, 7]. Dies gilt insbesondere für Personen mit fokaler Epilepsie. Bei (genetisch bedingten) generalisierten Epilepsien wie der juvenilen myoklonischen Epilepsie ist das EEG besonders nützlich, wenn es zu einem Zeitpunkt angefertigt wird, an dem die Patientinnen und Patienten möglicherweise IED haben , das heisst während des ersten Zyklus des leichten Schlafs, aber auch in den ersten 2–3 Stunden nach dem Aufwachen [8, 9]. Das EEG ist oft völlig normal, wenn die Untersuchung während des Wachzustandes durchgeführt wird, auch bei unbehandelten idiopathischen generalisierten Epilepsien (siehe Abb. S1 im Online-Appendix des Artikels).
Hinsichtlich der Bildgebung wurde die Überlegenheit der Magnetresonanztomographie gegenüber der Computertomographie beim ersten Anfall in mehreren Studien bewiesen, wobei bei etwa einem von acht Menschen mit computertomographisch nicht erkennbaren Läsionen eine epileptogene Läsion festgestellt werden kann [10]. Wenn das Computertomogramm (CT) eine Läsion zeigt, wird häufig zusätzlich eine Magnetresonanztomographie durchgeführt, um die Schädigung besser zu charakterisieren. Wenn das CT negativ ist, aber der Verdacht auf eine (fokale) Epilepsie besteht, wird zusätzlich ein Magnetresonanztomogramm (MRT) angefertigt, um eine signifikante Läsion auszuschliessen, inklusive Hirntumoren, die im CT übersehen werden können (Abb. 2).
Abbildung 2: 65-jähriger Patient mit einem ersten Krampfanfall mit (A) negativem zerebralen Computertomogramm (Axialschnitt) und (B) zerebralem Magnetresonanztomogramm (Axialschnitt), das ein Glioblastom im linken temporo-okzipitalen Kortex zeigt (Pfeil).
Wir schlagen daher vor, direkt ein MRT anzufertigen, das von einer ausgebildeten Neuroradiologin oder einem ausgebildeten Neuroradiologen beurteilt werden sollte, damit keine wertvolle Zeit für die weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte verloren geht, es sei denn, der Verdacht auf eine Schädelfraktur oder eine Blutung besteht (dann Notfall-Computertomographie) oder das EEG zeigt Anzeichen einer idiopathischen generalisierten Epilepsie (dann kein Hirn-MRT erforderlich).
Magnetresonanztomographisch lassen sich Läsionen nachweisen, deren Relevanz für das Ereignis unklar bleibt (z.B. ein früherer subkortikaler Schlaganfall) oder die fälschlicherweise als epileptogen interpretiert werden [11]. An Epilepsie angepasste Bildgebungsprotokolle ermöglichen es, epileptogene Läsionen zuverlässiger zu erkennen [12]. Die Nachbearbeitung von Bildern, wie zum Beispiel die Morphometrie, kann subtile strukturelle Anomalien erfassen, ist aber nur in spezialisierten Zentren verfügbar [13, 14]. Die Routine-Magnetresonanztomographie hat eine hohe Sensitivität bei der Identifizierung struktureller epileptogener Läsionen (z.B. hippokampale Sklerose, dysembryoplastischer neuroepithelialer Tumor [DNET], kortikale Dysplasie), ist aber nicht in der Lage, eine Epileptogenität nachzuweisen [15].
Dennoch gibt es derzeit keine zuverlässigen EEG- oder MRT-Biomarker, um ein erstes Ereignis korrekt als ASS, Epilepsie oder nicht epileptisch einzuordnen, vor allem wenn eine akute Hirnläsion vorliegt und das EEG gleichzeitig epileptogene Anomalien aufweist [16, 17]. Obwohl klinische Anamnese, EEG und neurologische Bildgebung für die korrekte Diagnose und die Bestimmung der Ätiologie des Ereignisses sehr wichtig sind, werden nur etwa 50% der vermuteten Anfälle korrekt diagnostiziert [18]. Die laufende multizentrische Studie «Swiss First» zielt darauf ab, neue Strategien für die EEG- und MRT-Analyse bei einem ersten Anfall zu bestimmen, um ein epileptisches Ereignis besser diagnostizieren und von Ereignissen anderer Ursache unterscheiden zu können [19].

Differentialdiagnose

Die Liste der «Imitatoren» eines epileptischen Anfalls ist lang und umfasst nicht epileptische paroxysmale Ereignisse wie Synkopen, psychogene Ereignisse, TIA, Migräne sowie metabolische, vegetative und kardiale Störungen [20, 21]. In einigen Fällen müssen auch andere medizinische Fachrichtungen hinzugezogen werden. Die diagnostische Abklärung beispielsweise einer kardialen Synkope ist oft langwierig und muss manchmal von Kolleginnen und Kollegen aus der Grundversorgung und der Kardiologie durchgeführt werden, meist ausserhalb des Spitals. Dies kann für Patientinnen und Patienten mit eingeschränkter Mobilität problematisch sein. Zu beachten ist, dass bei älteren Menschen durch die Anamnese alleine die Unterscheidung zwischen einem epileptischen Anfall und einer Synkope oder TIA aufgrund der Ähnlichkeit des klinischen Erscheinungsbildes sehr schwierig sein kann, wenn nicht sogar unmöglich [22–24]. Das Holter-Elektrokardiogramm (Holter-EKG) hat eine geringe diagnostische Ausbeute bei kardialen Ereignissen und die meisten Expertinnen und Experten betonen, dass der frühzeitige Einsatz eines implantierbaren EKGs zur Abklärung unklarer neurologischer Defizite potentiell kostengünstiger ist als die Durchführung oder Wiederholung eines Holter-EKGs und R-Tests zur Erkennung relevanter Herzrhythmusstörungen [25] (Tab 2).
Die Diagnose nicht epileptischer psychogener Anfälle kann sich um Jahre verzögern, wenn die initiale Abklärung unvollständig erfolgt ist [26]. Rezidive sind relativ häufig und verursachen hohe Kosten, wenn sie unbehandelt bleiben. In zwei prospektiven Studien litten 55–85% der Patientinnen und Patienten unter anhaltenden psychogenen Krisen, was höchstwahrscheinlich auf die nicht standardisierte Versorgung und die Fragmentierung der Versorgung zwischen Psychiatrie und Neurologie zurückzuführen ist [27, 28].
In den letzten 10–20 Jahren wurden mehrere neue Syndrome beschrieben, deren Prognose und Behandlung sich von denen struktureller oder genetischer Epilepsien unterscheiden. Beispielsweise sind das in den 1990er Jahren erstmals beschriebene posteriore reversible Enzephalopathie-Syndrom (PRES) [29] und die 2008 beschriebene autoimmune limbische Enzephalitis [30] Erkrankungen, die sich mit epileptischen Anfällen präsentieren, aber eine medizinische Behandlung erfordern, die über die antiepileptische Therapie hinausgeht, wie zum Beispiel die Verabreichung von Antihypertensiva oder Immunmodulatoren. Komplexe zugrunde liegende Erkrankungen können beim ersten Ereignis, während die Patientin oder der Patient noch in der Notfallstation ist, schwer zu erkennen sein. Durch zusätzliche Untersuchungen oder eine sorgfältige Durchsicht der Krankenakte können sie trotzdem ersichtlich werden. Bei einer Fehldiagnose können diese Patientinnen und Patienten sowie solche mit anderen «Anfalls-Imitatoren» Rezidive erleiden, die mit einer hohen Morbidität und Mortalität einhergehen. Dies erfordert Fachwissen in der Akutneurologie, einem Bereich, der sich seit der Schaffung von Stroke Units und Stroke Centers entwickelt hat und sich möglicherweise nun auch auf die Beurteilung von epileptischen Anfällen ausgeweitet. Dies wurde kürzlich in einer grossen Schweizer Kohorte von 1010 Patientinnen und Patienten gezeigt: Eine umfassende Abklärung (zerebrales MRT und LT-EEG) bereits in der Notaufnahme erbrachte einen bemerkenswerten Mehrwert bei der Diagnose neu diagnostizierter Epilepsien [31].

Rezidivrisiko

ASS haben ein insgesamt geringes Rezidivrisiko, das von sehr niedrig bei systemischen Ursachen (z.B. 5% bei Hyponatriämie) bis hoch bei zerebralen Ursachen (30–40% bei viraler Enzephalitis, 10–18% bei hämorrhagischem Schlaganfall) reicht [32, 33] (Tab. 3 [33]). Die anfängliche Mortalität eines ASS im ersten Monat ist 8,9-mal höher als bei einem nicht provozierten Anfall. Personen, die einen ersten ASS erlitten haben, haben ein um 80% geringeres Risiko, einen zweiten Anfall zu erleiden, im Vergleich zu Personen, die einen ersten nicht provozierten Anfall erlitten haben [32].
Das Rezidivrisiko eines nicht provozierten Anfalls liegt zwischen 21 und 45% und ist in den ersten zwei Jahren am höchsten [17, 18, 34] . Dieses Risiko steigt bei prolongierten Anfällen, Status epilepticus, früheren ASS, Todd-Lähmung oder IED im EEG [35]. Nach einem ersten Anfall ohne Auffälligkeiten im EEG oder MRT liegt das Rezidivrisiko bei 19–26% nach einem Jahr und bei 30–35% nach fünf Jahren [36], während es bei Vorliegen von IED im EEG oder einer Läsion im MRT auf >60% ansteigt [5, 36, 37]. Wenn keine Auffälligkeiten im EEG oder MRT vorliegen, die Patientin oder der Patient aber einen zweiten nicht provozierten Anfall erleidet, ist das Rezidivrisiko ebenfalls hoch: 60% im ersten Jahr und 70% innerhalb von vier Jahren, wenn keine Behandlung erfolgt [38]. Wird ein Gesamtrisiko von 60% oder mehr errechnet, so wird angenommen, dass die Patientin oder der Patient an einer Epilepsie (oder «Epilepsie-Krankheit») leidet: Antikonvulsiva müssen verabreicht werden [39].

Sofortbehandlung statt Abwarten eines zweiten Anfalls

Die Diagnose einer Epilepsie kann beim Auftreten eines nicht provozierten epileptischen Anfalls, falls EEG- oder MRT-Auffälligkeiten vorliegen, oder beim Auftreten von zwei epileptischen Anfällen im Abstand von mindestens 24 Stunden gestellt werden [39], wobei ein Rezidivrisiko von mindestens 60% angenommen wird.
Da die Definition von Epilepsie auf einer Einschätzung des Rezidivrisikos beruht, sind praktische Überlegungen angebracht. So würde zum Beispiel die Diagnose Epilepsie nicht gestellt, wenn eine Person zwei Anfälle im Abstand von >30 Jahren erleidet, auch wenn sie definitionsgemäss im Abstand von >24 Stunden auftreten.
In einer grossen multizentrischen randomisierten Studie (MESS-Studie [40]) wurde gezeigt, dass eine «sofortige» Behandlung, das heisst Beginn der Behandlung nach dem ersten nicht provozierten Anfall und ohne Warten auf ein zweites Ereignis, zu besseren Ergebnissen führt, wobei der Zeitraum zwischen Ereignis und Beginn der Behandlung mit Antikonvulsiva nicht spezifiziert wurde [40]. Interessanterweise haben diese und andere Studien gezeigt, dass frühere Anfälle ein Risikofaktor für das Wiederauftreten von Anfällen bei neu diagnostizierter Epilepsie sind [40–42]. Das Wiederauftreten von Anfällen war in den ersten zwei Jahren höher und blieb bis zu acht Jahre lang erhöht, wenn die Patientinnen und Patienten bereits (unbehandelte) Anfälle erlitten hatten, unabhängig davon, ob eine sofortige oder verzögerte Behandlung eingeleitet wurde [40], was auf eine entscheidende Rolle der Antikonvulsiva nach dem ersten Ereignis hindeutet. Eine kürzlich durchgeführte monozentrische Studie hat gezeigt, dass bei Personen, bei denen nach einem ersten Anfall eine Epilepsie neu diagnostiziert wurde, eine frühzeitige Behandlung innerhalb der ersten 48 Stunden mit einer besseren Prognose in den folgenden fünf Jahren verbunden war [43].
Daher ist eine frühzeitige Abklärung und Behandlung nach einem ersten nicht provozierten Anfall als Symptom einer neu aufgetretenen Epilepsie von grösster Bedeutung, um das Rezidivrisiko in den Folgejahren zu mindern.
Es gibt keine formale Indikation für die Einleitung einer antikonvulsiven Therapie nach einem ASS. Dies gilt insbesondere für ASS im Zusammenhang mit systemischen Erkrankungen (Hyponatriämie, Hypoglykämie). Im Gegensatz dazu wird bei provozierten Anfällen im Zusammenhang mit einer zerebralen Pathologie (z.B. hämorrhagischer Schlaganfall, akute Herpes-Enzephalitis) häufig eine Behandlung in der Akutphase eingeleitet, wenn das EEG und die akuten und chronischen Läsionen im MRT als Kriterien für «Epilepsie-Krankheit» angesehen werden, obwohl während des ersten Anfalls ein akuter «provozierender» Kontext festgestellt wird. Je nach den besonderen klinischen Umständen, zum Beispiel bei älteren Menschen mit hohem Frakturrisiko bei erneutem Anfall oder einer residualen Hirnläsion, kann eine Langzeitmedikation in Erwähnung gezogen werden.

Therapeutische Überlegungen

Bei guter Medikamentencompliance sprechen 45,7% der Patientinnen und Patienten auf das erste Medikament an [44]. In der Schweiz können verschiedene Medikamente als initiale Monotherapie eingesetzt werden (derzeit: Levetiracetam, Lamotrigin, Valproat, Zonisamid, Eslicarbazepin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Phenobarbital, Phenytoin), während bei Versagen der Monotherapie eine Add-on-Behandlung mit einem zweiten Medikament in Betracht gezogen werden kann (z.B. Perampanel). Die spezifischen Medikamentenauswahl sollte auf Komorbiditäten und Komedikation basieren, um Arzneimittelinteraktionen (z.B. mit einer onkologischen Behandlung oder gleichzeitiger Antikoagulation) zu minimieren. Ein Nichtansprechen auf das erste Medikament (durch Talspiegel zu überprüfen) verringert die Chance einer Anfallskontrolle in den Folgejahren, die nur in 10–20% der Fälle erreicht wird. Eine echte Pharmakoresistenz, also das Nichtansprechen auf zwei Medikamente, ist jedoch in den ersten Jahren selten, und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte oder Neurologinnen und Neurologen sollten daher dazu angehalten werden, die Blutspiegel (Wird das Medikament eingenommen? Sind die Plasmaspiegel des Medikaments zu niedrig?) oder die Diagnose (nicht epileptische Ereignisse?) zu überprüfen. Wenn die Anfälle trotz aller Bemühungen fortbestehen, ist eine weitere umfassende stationäre Abklärung angezeigt.

Schlussfolgerungen

Eine angemessene und umfassende Abklärung von Patientinnen und Patienten mit einem ersten Anfall oder einem epilepsieähnlichen Ereignis ist von grösster Bedeutung, um die Prognose zu verbessern und die Wahrscheinlichkeit eines anfallsfreien oder rezidivfreien Lebens zu steigern. Die Abklärung sollte rasch in der Notfallstation oder innerhalb weniger Tage nach dem Ereignis durchgeführt werden, wenn möglich in Einheiten oder Netzwerken, die auf «erste epileptische Anfälle» spezialisiert sind. Eine frühzeitige Abklärung ermöglicht auch eine frühzeitige korrekte Diagnose und im Falle einer neuen Epilepsiediagnose die sofortige Einleitung einer Behandlung, was das Wiederauftreten von Anfällen verringern kann. Ein solcher Ansatz führt zu einer Verringerung der Komorbiditäten oder der Sterblichkeit bei epileptischen Anfällen und ist auch kosteneffektiv, wobei die mit Rezidiven verbundenen personellen und materiellen medizinischen Ressourcen (direkte Kosten) einspart und die indirekten Kosten (z.B. Arbeitsausfall, Invalidenversicherung) gesenkt werden.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Epileptische Anfälle gehören zu den häufigsten neurologischen Notfällen; es kann sich dabei um akut symptomatische Anfälle oder um nicht provozierte Anfälle handeln, die mit einem unterschiedlichen Rezidivrisiko einhergehen.
  • Die Abklärung eines ersten vermuteten Anfalls muss zeitnah (am selben Tag oder innerhalb weniger Tage nach dem Ereignis) eingeleitet werden, idealerweise bereits in der Notfallstation.
  • Die frühzeitige Abklärung eines vermuteten epileptischen Anfalls sollte mit einer genauen Anamnese beginnen, die die Vorgeschichte, die Umstände des Auftretens des Anfalls und eine möglichst genaue Beschreibung des Anfalls durch die Zeugen umfasst.
  • Die prompte Abklärung eines nicht provozierten Anfalls umfasst die Durchführung einer Elektroenzephalographie innerhalb von 24 Stunden und die Bildgebung des Gehirns (Computer- oder, wenn möglich, initial eine Magnetresonanztomographie).
  • Eine frühzeitige Abklärung ermöglicht eine korrekte Diagnose und bei neu diagnostizierter Epilepsie die sofortige Einleitung einer Behandlung, wodurch Rezidive verringert und die Prognose verbessert werden.
Dr. med. Pia De Stefano Unité de neuro-réanimation, Service des soins intensifs, Hôpitaux universitaires de Genève, Genève
Dr méd. Pia De Stefano
Unité de neuro-réanimation
Service des soins intensifs
Hôpitaux universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
CH-1205 Genève
pia.destefano[at]hcuge.ch
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Funding Statement
MS und PDS wurden durch den Zuschuss CRS115-180365 des Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.
Conflict of Interest Statement
MS hat angegeben, Aktionärin von Epilog NV zu sein. Die anderen Autorinnen haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Author Contributions
Konzept, PDs, MS; Methodik, PDS, DF, PA, FP, MS; Visualisierung, PDS, FP, MS; Schreiben, Überprüfen, Editieren, PDS, DF, PA, FP, MS; Supervision, FP, MS. Alle Autorinnen haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

AndreyPopov

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