Umsetzung von Qualitätsindikatoren

Organisationen
Ausgabe
2023/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21830
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(37):38-41

Affiliations
a Dr. med., Klinischer Qualitätsmanager, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern; b PD Dr. med., MAS, Leitende Ärztin, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern; c Prof. Dr. med., Direktor und Chefarzt, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern

Publiziert am 13.09.2023

Analyse Empfehlungen sind gut, ihre Umsetzung besser. Deshalb hat die allgemeininternistische Universitätsklinik des Inselspitals die Qualitätsindikatoren der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin umfassend ausgewertet. Dabei hat sie punktuell Handlungsbedarf identifiziert und Verbesserungsmassnahmen umgesetzt.
Die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) hat im Juni 2021 in dieser Zeitschrift sechs Qualitätsindikatoren im stationären Bereich vorgeschlagen [1]. Die sechs Qualitätsindikatoren betreffen den zeitnahen Informationsfluss an die nachbehandelnde Ärzteschaft, die Neuverschreibung von Benzodiazepinen, die Erhebung der Sturzanamnese als Basis für eine Sturzprävention, restriktivere Transfusionsrichtlinien, das Critical Incidence Reporting System (CIRS) und den Impfschutz der Mitarbeitenden gegen Hepatitis B.
Die Auswertung zeigte, was bereits gut läuft und wo es noch Optimierungspotenzial gibt.
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Im Rahmen der kontinuierlichen Qualitätskontrolle an unserer allgemeininternistischen Universitätsklinik haben wir den Ist-Zustand in Bezug auf diese Qualitätsindikatoren untersucht, um Bereiche zu identifizieren, in denen weitere Massnahmen zur Qualitätsverbesserung nötig sind.
Nachfolgend wird auf die einzelnen Qualitätsindikatoren näher eingegangen, wobei wir den theoretischen Hintergrund, den die SGAIM auf ihrer Homepage detailliert festgehalten hat, nicht rekapitulieren [2].

Informationsfluss

Anteil provisorischer Austrittsberichte, die innerhalb von 24 Stunden an den nachbehandelnden Arzt beziehungsweise die Ärztin übermittelt wurden mit Angaben über Diagnosen, Prozedere und Medikamente (mit etwaigen Gründen für Medikamentenänderung).
An unserer Klinik wurde zwar seit langem bei allen Austritten ein Kurzaustrittsbericht in Papierform an die Patienten und Patientinnen ausgehändigt, aber bisher nicht direkt an die nachbehandelnde Ärzteschaft übermittelt. Mittlerweile konnten technische Hürden für einen datenschutzkonformen elektronischen Versand via E-Mail abgebaut werden. Die nachbehandelnde Ärzteschaft erhält unsere provisorischen Austrittsberichte ergänzt durch eine Laborzusammenfassung nun via E-Mail, wobei die Mitgabe in Papierform beibehalten wurde.
Monatliche Auswertungen seit der Etablierung des elektronischen Versands im Juni 2022 ergaben, dass die Versandrate der provisorischen Austrittsberichte innerhalb von 24 Stunden bei durchschnittlich 75% liegt. Diese auf den ersten Blick enttäuschende Rate beruht darauf, dass an den Wochenenden und Feiertagen kein Versand erfolgt. Die Versandrate innerhalb 72 Stunden beträgt hingegen 96%.
Unsere Analysen waren nicht angelegt, um einen positiven klinischen Effekt beispielsweise bezüglich ungeplanter Rehospitalisationen nachzuweisen. Dass die direkte Übermittlung der provisorischen Kurzaustrittsberichte aber einem Bedürfnis der Nachbehandelnden entspricht, zeigt sich daran, dass die Sekretariate praktisch keine telefonischen Dokumentationsanfragen seitens der Hausärzteschaft mehr bewältigen müssen, was den Mehraufwand durch den elektronischen Versand kompensiert.

Neuverschreibung Benzodiazepine

Anteil älterer Patienten oder Patientinnen, bei denen während des Aufenthalts eine Therapie mit einem Benzodiazepin (oder anderen Sedativa/Hypnotika) neu begonnen wird.
Aufwändige retrospektive Auswertungen der diesbezüglichen Praxis unserer Klinik im ersten Semester 2021 bei allen austretenden Personen, die vorgängig weder ein Benzodiazepin noch ein Z-Medikament einnahmen, haben erfreulicherweise ergeben, dass Neu- und Weiterverschreibungen nach Spitalentlassung nur in Ausnahmefällen vorkamen.
Konkret lag die kumulierte Rate von Neu- und Weiterverschreibungen von Benzodiazepinen oder Z-Medikamenten ohne in der Krankengeschichte dokumentierte adäquate Indikation mit 0,8% mehr als zehnmal tiefer als die Zahlen aus der Literatur erwarten liessen [3].
Wir können nicht beurteilen, wie die Neu- und Weiterverschreibung von Benzodiazepinen oder Z-Medikamenten in anderen Kliniken gehandhabt wird. Da aber in der Schweiz mindestens zwei Drittel aller Verschreibungen von Benzodiazepinen oder Z-Medikamenten im ambulanten Sektor erfolgen, würden wir empfehlen, diesen Qualitätsindikator auch dort und unter Berücksichtigung der erheblichen regionalen Unterschiede zur Anwendung vorzuschlagen [4, 5].
Mittlerweile konnten technische Hürden für einen datenschutzkonformen elektronischen Versand von Austrittsberichten via E-Mail abgebaut werden.
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Sturzprävention

Anteil der Patienten und Patientinnen ≥65 Jahre, die danach gefragt wurden, ob und wenn ja, wie oft (Anzahl) und in welcher Weise (Sturzhergang) sie in den letzten 12 Monaten gestürzt waren.
Die Erhebung der Sturzanamnese ist als Komponente vielfältiger Bemühungen zur Prävention von Stürzen in unserer Klinik seit vielen Jahren eigentlich ein obligatorischer Teil der Pflegeanamnese.
Bei der prospektiven Analyse von 150 Austritten im Januar 2022 war das entsprechende Feld in der elektronischen Krankengeschichte bei 40 Fällen (26%) allerdings nicht ausgefüllt.
Bei 15 (10%) dieser Fälle liess sich das Ausbleiben der Sturzanamnese vor dem klinischen Hintergrund nachvollziehen (Eintritt moribund oder aphasisch, fortgeschrittene Demenz, kurzfristige Selbstentlassung etc.), was illustriert, dass eine hundertprozentige Erfassung unrealistisch ist.
Damit verblieben 25 Fälle (17%) mit ungerechtfertigterweise unterbliebener Sturzanamnese.
Die Pflegenden wurden auf die Problematik hingewiesen und erneute Auswertungen – anhand von zwischenzeitlich eingeführten, strukturiert erfassten Daten zur Sturzanamnese in unserem Klinikinformationssystem – sind vorgesehen.

Transfusionspraxis

Anteil der Patienten respektive Patientinnen mit einer Transfusion bei einem Hämoglobin (Hb)-Wert von >80 g/L.
Die schon 2014 für die stationäre Allgemeine Innere Medizin (AIM) publizierten «Smarter Medicine»-Empfehlungen zur restriktiven Transfusionspraxis, welche auf die Vermeidung von unnötigen Transfusionen und deren Nebenwirkungen abzielen, wurden in unserer Klinik anhand von spezifischen Weiterbildungen und mittels «Pocket Cards» propagiert [6].
Die Transfusionspraxis in den Jahren 2012 bis 2019 in unserer Klinik wurde auch im Vergleich zu den übrigen Kliniken in unserem Spital bereits wissenschaftlich ausgewertet.
Gemäss ersten Resultaten, die als Poster an der Jahresversammlung 2021 der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) präsentiert wurden, war in unserer Klinik zwischen 2012 und 2019 ein kontinuierlicher und statistisch signifikanter Rückgang der durchschnittlichen Transfusionsgrenze von 74 g/l auf 69 g/l festzustellen [7]. Die durchschnittliche Rate an potenziell inadäquaten Transfusionen bei einem Hämoglobinwert von > 80 g/L lag 2012 in unserer Klinik nahe bei 30% und ging im Beobachtungszeitraum um rund vier Fünftel zurück [8].

Critical Incidence Reporting System

Anteil der CIRS Fälle bei auf der AIM hospitalisierten Patienten und Patientinnen, die analysiert und diskutiert werden.
Ein im Intranet leicht zugängliches CIRS-Meldesystem, welches der frühzeitigen Erkennung von möglichen Fehlerquellen im Arbeitsablauf dient und so die Verbesserung der Abläufe und Optimierung der Patientensicherheit anstossen soll, existiert in unserem Spital seit bald zwanzig Jahren. Die CIRS-Meldungen erfolgen anonym und betreffen nur kritische Ereignisse, die keinen bleibenden Schaden hinterliessen.
Alle Meldungen aus unserer Klinik werden neunmal jährlich im interdisziplinären Team im Hinblick auf systematische Sicherheitsmängel analysiert und allfällige Verbesserungsmassnahmen angestossen.
Besonders lehrreiche Fälle werden zudem quartalsweise einem Plenum aus Ärzteschaft und Pflege präsentiert und zur Diskussion gestellt, um so eine aktive Fehlerkultur zu stimulieren und das erneute Auftreten von ähnlichen (Beinahe-)Fehlern zu vermeiden.
Die Meldehäufigkeit ist monatsweise recht variabel, aber insgesamt konstant und betraf in den Jahren 2019 bis 2022 im Durchschnitt nur knapp zwei Prozent aller Austritte beziehungsweise drei CIRS-Meldungen pro 1000 Pflegetage.
Eine 2021 erschienene umfassende Analyse aller Abteilungen des Universitätsspitals Basel ergab bezüglich Meldehäufigkeit ähnlich tiefe Werte [9].
Wir gehen in Übereinstimmung mit den Autoren aus Basel davon aus, dass die gemeldeten kritischen Ereignisse wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Wir würden zudem postulieren, dass noch seltenere oder ganz fehlende CIRS-Meldungen nicht unbedingt auf eine optimale Versorgungsqualität, sondern auch auf eine Unternutzung beziehungsweise ungenügende Bekanntheit des CIRS hinweisen können.

Hepatitis B

Anteil der Mitarbeitenden der AIM im Kontakt mit Blut oder mit blutkontaminierten Materialien, der einen ausreichenden Hepatitis-B-Impfschutz aufweist.
Eine Hepatitis-B-Impfung ist an unserem Spital für alle Mitarbeitenden sowie für Studierende, Zivildienstleistende und für Praktikumsstellen obligatorisch und schützende Titer werden gegebenfalls durch Nachimpfungen sichergestellt. Externe Firmen, deren Mitarbeitende an unserem Spital eingesetzt werden, sind angehalten, ein eigenes Schutzkonzept zu entwickeln und ihre Mitarbeitenden gegen Hepatitis B zu impfen. Dementsprechend sind in unserem Spital seit mindestens 16 Jahren keine berufsbedingten Infektionen mit Hepatitis B aufgetreten.
Auch die übrigen Impfempfehlungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) für Gesundheitspersonal [10] werden beim Anstellungsprozedere angesprochen.
Schweizer Daten zur Impfquote gegen Hepatitis B bei Mitarbeitenden im Gesundheitswesen konnten wir keine finden und es ist unklar, ob eine gesicherte Immunität in allen Schweizer Spitälern der Standard ist.
Ob sich die alleinige Betrachtung der Immunität gegen Hepatitis B als Qualitätsindikator für den Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden eignet oder ob hier der Fokus auf alle Impfempfehlungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen des BAG ausgeweitet werden könnte [10], ist diskutabel.
Eine solche, umfassendere Empfehlung zum Impfschutz für Mitarbeitende der AIM könnte zusätzlich dem Schutz der Patientinnen und Patienten vor übertragbaren Krankheiten (zum Beispiel Influenza) dienen.

Schlussfolgerung

Die Publikation der Qualitätsindikatoren im stationären Bereich durch die SGAIM gab uns den Anstoss zur Überprüfung und Verbesserung der entsprechenden Empfehlungen im Rahmen unserer kontinuierlichen Qualitätsverbesserungsprozesse.
Eindeutigen Handlungsbedarf fanden wir hauptsächlich beim Informationsfluss – also der bis anhin unterbliebenen direkten Übermittlung der provisorischen Austrittsberichte an die nachbehandelnden Ärztinnen und Ärzte. Hier konnten wir den Transfer der relevantesten Informationen durch einen standardisierten elektronischen Versand der provisorischen Austrittsberichte massgeblich verbessern, wobei die bis anhin praktizierte Mitgabe beim Austritt in Papierform beibehalten wurde.
Die übrigen Indikatoren wurden an unserer Klinik mehrheitlich seit längerem thematisch berücksichtigt, aber in diesem Kontext teilweise erstmals systematisch ausgewertet, was beispielsweise bei der Erhebung der Sturzanamnese weiteres Optimierungspotenzial offenlegte.
Wir danken Herr Luca Varrà und dem Team des Insel Data Science Center, Inselspital, Universitätsspital Bern für die komplexen Auswertungen betreffend Neuverschreibung Benzodiazepine und Frau Dr. med. P. Iseli, Leiterin Personalärztlicher Dienst, Inselspital, Universitätsspital Bern für ihre Auskünfte betreffend Impfschutz der Mitarbeitenden gegen Hepatitis B.
thomas.beck[at]insel.ch
1 Wertli M, Nuschin Djalali S, Kherad O, Schneemann M, Rampini S, Rohrbasser A et al. Qualitätsindikatoren im stationären Bereich. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(26):877-880 https://saez.ch/article/doi/saez.2021.202892 stationär - SGAIM - SSMIG – SSGIM. https://www.sgaim.ch/de/qualitaet/qualitaet-im-spital/qualitaetsindikatoren3 Olfson M, King M, Schoenbaum M. Benzodiazepine use in the United States. JAMA Psychiatry. 2015 Feb;72(2):136-42. 4 Landolt S, Rosemann T, Blozik E, Brüngger B, Huber CA. Benzodiazepine and Z-Drug Use in Switzerland: Prevalence, Prescription Patterns and Association with Adverse Healthcare Outcomes. Neuropsychiatr Dis Treat. 2021;17:1021-10345 Benzodiazepine / Schweizer Versorgungsatlas6 www.smartermedicine.ch/de/top-5-listen/stationaere-allgemeine-innere-medizin 7 Udayakumar P , Beck T , Koch J , Wertli M , Baumgartner C. Hemoglobin thresholds for transfusion: how are we doing in the era of Choosing Wisely? Primary and Hospital Care 2021;21 (Suppl. 11): 39-40
8 Jeganathan-Udayakumar P, Tochtermann N, Beck T, Wertli MM, Baumgartner C. Hemoglobin thresholds for transfusion: how are we doing in the era of Choosing Wisely? A retrospective cohort study. Swiss Med Wkly. 2023;153:40132.9 Jäger C, Mohr G, Gökcimen K, Navarini A, Schwendimann R, Müller S. Critical incident reporting over time: a retrospective, descriptive analysis of 5493 cases. Swiss Med Wkly. 2021;151:w3009810 Impfempfehlungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Bull BAG 2009; Nr. 43: 804–8