«Gesundheitspersonal ist keine Ware»

«Gesundheitspersonal ist keine Ware»

Interview
Ausgabe
2023/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1214326665
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(43):12-16

Publiziert am 25.10.2023

Zusammenarbeit
Gesundheit für alle weltweit: Das ist die Vision von Medicus Mundi Schweiz. Dieses Jahr wird die Organisation 50 Jahre alt. Was sie erreicht hat, wie sie den Wortschatz des Bundesrats prägt und was der globale Norden vom globalen Süden lernen kann, erklärt Geschäftsführer Martin Leschhorn Strebel im Interview.
Martin Leschhorn Strebel hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert und ist seit 2014 Geschäftsführer von Medicus Mundi Schweiz und seit 2022 Präsident von Medicus Mundi International.
© Eve Kohler
Martin Leschhorn Strebel, Medicus Mundi Schweiz (MMS) wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Wie arbeitet MMS?
Erstens fördern wir den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsorganisationen. Unser zweiter Arbeitsbereich heisst «Wissen und Lernen». Unsere Mitgliedsorganisationen schlagen Themen vor, die für sie aus ihrer Arbeit weltweit gerade aktuell sind, zum Beispiel das Thema «Die Bedeutung der älterwerdenden Gesellschaft» oder auch das Thema Digitalisierung. Die Geschäftsstelle setzt das Thema dann im Auftrag der Organisation um.
Wie macht sie das?
Wir organisieren zum Beispiel Round Tables, Workshops und Plattformen, wir erarbeiten Studien und bringen Veränderungsprozesse auf den Weg. Wir fragen und erklären, wie die Gesundheitssysteme global zusammenhängen.
Das klingt ziemlich theoretisch.
Wir sind nicht die mit den dreckigen Füssen. Wir sind für unsere Mitglieder da, damit sie ihre Arbeit weltweit vor Ort machen können. Und wir sind für die Schweiz da, damit hier politische Entscheidungen getroffen werden können, die auf den Erfahrungen und dem Wissen unserer Mitglieder aufbauen. Wir sind ein Kompetenzzentrum für globale Gesundheit.
Medicus Mundi Schweiz (MMS) mit Sitz in Basel ist ein Netzwerk, in dem sich rund 50 Schweizer Organisationen, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, für das weltweite und generationenübergreifende Recht auf Gesundheit für alle engagieren. Medicus Mundi bedeutet «Arzt der Welt» und verweist auf die katholischen Wurzeln der Organisation. Seit 2008 leitet MMS auch die Geschäfte von Medicus Mundi International (MMI), dem Organisationen weltweit angehören. Weitere Informationen unter: www.medicusmundi.ch
Wie können Sie Einfluss auf die Schweizer Politik nehmen?
Wir suchen das Gespräch mit Akteuren in der Schweiz, wie zum Beispiel mit dem Bundesamt für Gesundheit oder mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern, auch mit der Wirtschaft. Wir suchen das Gespräch überall, wo Entscheide getroffen werden, welche die Gesundheit weltweit tangieren. Dort bringen wir unsere zivilgesellschaftliche Sicht und unser Wissen ein, damit die Schweiz die Herausforderungen in der globalen Gesundheit mitdenkt und auch, damit die Schweiz diese Sichtweise in politische Foren einbringt, bei denen sie mit am Tisch sitzt, wie in der WHO. Wir sitzen hier in der Schweiz mit Schweizer Entscheidungsträgern am Tisch für die Menschen im globalen Süden. All das zusammen bildet den dritten Arbeitsbereich, die Advocacy-Arbeit.
Was haben Sie in den vergangenen 50 Jahren erreicht?
Wir haben erreicht, dass die globale Gesundheit in der Schweizer Aussenpolitik verankert ist. Wir haben die Basisgesundheitsversorgung in der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit verankert. Auch unser Netzwerk ist stark gewachsen: Es sind heute nicht nur Ärzte und Ärztinnen, sondern auch politische, kirchliche und humanitäre Organisationen, auch aus dem akademischen Sektor, die gemeinsam die ganze Breite dieser Arbeit repräsentieren.
Medicus Mundi International wurde 1963 gegründet, Medicus Mundi Schweiz 1973. Warum?
Ganz am Anfang der Arbeit von MMS stand die Ausbildung von Ärzten und Ärztinnen aus der Schweiz für den Einsatz in Entwicklungsländern. Man suchte neue Wege für internationale Zusammenarbeit, auch auf medizinischem Gebiet, hin zu mehr Professionalisierung, weg von kolonialistischen Strukturen.
Die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen vor dem Hintergrund der Dekolonisierungsdebatte ist auch das Thema des Symposiums zu Ihrem 50. Jahrestag am 2. November. Warum ist dieses Thema wichtig?
Die Geschichte der Tropenmedizin wie auch die Geschichte der internationalen Gesundheitszusammenarbeit ist stark kolonial verankert: So sind Programme gegen Malaria zuerst einmal für die Kolonisatoren entstanden. Dann für die einheimische Bevölkerung, deren Arbeitskraft gebraucht wurde. Und dann, damit Malaria nicht in den Norden exportiert wurde. Wir können diese kolonialen Wurzeln der internationalen Gesundheitszusammenarbeit nicht weiter ignorieren, wenn wir mit unseren Partnern wirkungsvoll etwas verändern wollen.
Es geht also nicht mehr um weisse Ärzte aus dem reichen Norden, die Wohltaten im armen Süden vollbringen?
Nein. Wenn wir nachhaltig arbeiten wollen, müssen wir mit unseren Partnern vor Ort zusammenarbeiten und verstehen, wie die Themen und Systeme international zusammenhängen und voneinander abhängig sind. Primär müssen die Strukturen der Systeme für Gesundheit vor Ort gestärkt werden – etwa indem wir mehr Gesundheitspersonal vor Ort ausbilden …
… anstatt sie für uns weg zu rekrutieren.
Genau. Jetzt haben wir einen Domino-Effekt: Die Schweiz rekrutiert Personal aus Deutschland, Deutschland rekrutiert aus Polen, Polen rekrutiert aus Rumänien und so weiter. Und dann haben die Leute dort ein echtes Problem, weil sie keine Ärzte oder Pflegekräfte mehr haben. Hier ist die Schweiz klar in der Verantwortung: Es muss auch hier mehr ausgebildet werden und es müssen bessere Arbeitsbedingungen geschaffen werden.
«Wir sitzen mit Schweizer Entscheidungsträgern am Tisch für die Menschen im globalen Süden», sagt Martin Leschhorn Strebel.
© Eve Kohler
Sonst kommt es zum Pull-Push-Effekt, der im globalen Süden beobachtet werden kann.
Ja. Gesundheitspersonal im globalen Süden findet dort trotz guter Ausbildung kein befriedigendes Arbeitsumfeld: Es fehlt an Instrumenten, der Strom fällt aus und so weiter. Dann gehen sie zuerst vom Land in die Stadt, dann wechseln sie vom öffentlichen in den privaten Sektor und am Ende verlassen sie das Land. Da sind die jeweiligen Regierungen in der primären Verantwortung.
Was kann MMS dagegen tun?
Dass dieser Domino-Effekt heute im Sprachgebrauch des Bundesrates angekommen ist, halten wir uns von Medicus Mundi Schweiz zugute. Man hat das Problem erkannt: Gesundheitspersonal ist keine Ware, die weltweit hin- und hergeschoben werden kann. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen müssen hier und weltweit fair behandelt werden.
Dann profitieren alle Beteiligten.
Genau. Dazu müssen wir primär immer lokale Kapazitäten stärken und dürfen nicht davon ausgehen, dass unser Wissen und unsere Technologie an sich überlegen sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist TWINT. Bevor wir dieses einfache Bezahlsystem hier in der Schweiz hatten, gab es in Afrika schon lange ein solches Bezahlsystem via SMS. Es gibt überall auf der Welt Innovation und Kreativität.

«Die Schweiz hat als eines der ersten Länder eine sogenannte Gesundheitsaussenpolitik entwickelt.»

Wie ist Gesundheit überhaupt so wichtig für die internationale Politik geworden?
Zentral war die HIV-Epidemie in den 80er Jahren. Davon waren insbesondere auch Männer aus der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie betroffen. Ihr Einfluss und ihr kulturelles Kapital führten dazu, dass HIV nicht zu mehr Diskriminierung, sondern zu einer liberaleren Haltung gegenüber Homosexuellen führte. Als es dann in den 90er Jahren Medikamente gab, realisierte die internationale Gemeinschaft, dass sich die wahre HIV-Epidemie im globalen Süden abspielte. Der Kampf für den Zugang zu den Medikamenten wurde ein globaler. Der damalige südafrikanische Präsident Nelson Mandela erlaubte es indischen Firmen, Generika zu importieren, auch gegen den Willen der Pharma-Industrie. Das bisherige Laisser-faire war für die Regierungen im Norden wie auch für die Industrie zu einem Reputationsrisiko geworden. Und es wurde klar: Entwicklung ohne Gesundheit geht nicht. Die Schweiz hat dies früh erkannt und als eines der ersten Länder eine sogenannte Gesundheitsaussenpolitik entwickelt.
Wie können Ärzte und Ärztinnen in der Schweiz von MMS profitieren?
Sie können auf ein grosses Netzwerk mit vielen Partnern und viel Know-how zurückgreifen. Wenn also ein Arzt oder eine Ärztin selbst ein Projekt in der Entwicklungszusammenarbeit aufgleisen will, soll er oder sie Mitglied der MMS werden.

«Wir müssen primär immer lokale Kapazitäten stärken und dürfen nicht davon ausgehen, dass unser Wissen und unsere Technologie überlegen sind.»

Kann das Schweizer Gesundheitssystem von den Erfahrungen profitieren, die Ihre Mitglieder im globalen Süden machen?
Wir können lernen, wie man auch mit weniger Ressourcen gute Medizin macht: Denken Sie an Community Health Worker. Das sind Freiwillige, die sich weitergebildet haben und mit der Bevölkerung gemeinsam in gesunde Ernährung oder in die Betreuung werdender Mütter investieren. Sie können einfache Diagnosen machen und wenn nötig an das nächste Spital weiterleiten. Das hat einen enormen Effekt auf die Basisgesundheit vor Ort.
In der Bekämpfung von Malaria wurden auch Modelle entwickelt, die jetzt in der Antibiotikaforschung genutzt werden können.
Die Entwicklung und Produktion von Malariamedikamenten waren zu unattraktiv für die Pharmaindustrie, wie das heute bei Antibiotika der Fall ist – obwohl eigentlich die Nachfrage riesig wäre. Daraus resultiert ein Marktversagen. Um diesem entgegenzutreten, braucht es Investitionen der öffentlichen Hand und die Zusammenarbeit mit pharmazeutischen Unternehmen, damit neue Produkte hergestellt werden, jenseits der reinen Marktlogik. Diese Produktepartnerschaften, wie es sie in der Entwicklung von Wirkstoffen gegen Malaria gibt, weisen auch den Weg in der Entwicklung neuer Antibiotika.

«Wir werden Wissensgrundlagen erarbeiten, die zum ersten Mal detailliert aufzeigen sollen, welchen Einfluss die Schweiz auf die weltweite Gesundheit hat.»

Was haben Sie persönlich bei Ihrer Arbeit für MMS gelernt?
Mir ist vor allem die ganz grundsätzliche Bedeutung der Menschenrechte für die globale Gesundheit klar geworden. Ein Beispiel: Die USA verschärfen ihr Abtreibungsrecht. Konservative amerikanische Organisationen sind weltweit tätig, zum Beispiel auch in der LGBTQ- Arbeit in Uganda. Dort schwächen sie die Rechte dieser Community. Dadurch sind diese Kreise von schlechterer Gesundheit bedroht, weil ihr Zugang zu HIV-Tests erschwert wird. Jede HIV-Diagnose, die nicht gestellt wird, ist wiederum eine Gefahr für die globale Gesundheit.
Was sind die nächsten Ziele von Medicus Mundi?
Mittelfristig hätten wir schon viel erreicht, wenn sich die Schweiz in allen Politikbereichen für das Recht auf Gesundheit weltweit einsetzt. Damit dies möglich wird, werden wir Wissensgrundlagen erarbeiten, die zum ersten Mal detailliert aufzeigen sollen, welchen Einfluss die Schweiz auf die weltweite Gesundheit hat.